Entfuhrt
letzten Jahren in der Gegend spurlos verschwunden waren. »Menschen, deren Leichen nie gefunden wurden«, lautete die Zwischenüberschrift.
Die meisten waren Männer, vermutlich mehr als die Hälfte war im Meer ertrunken. Einige waren noch Tage nach ihrem Verschwinden gesehen worden, aber die Zeugenaussagen blieben vage und widersprüchlich.
Karlsson äußerte sich als Polizeiexperte. Er beschrieb Statistiken und mögliche Szenarien.
»In den Fällen, in denen wir den Verdacht haben, die Vermissten könnten ermordet worden sein, konzentrieren wir uns auf die nächsten Angehörigen. In der Regel findet man die Täter dort.«
Das Zitat bezog sich nicht ausdrücklich auf Mike, aber der Artikel wurde von dem großen Foto Ylvas illustriert, das Mike nach ihrem Verschwinden an die Zeitung gegeben hatte.
Karlsson hätte Mike nicht deutlicher beschuldigen können, ohne sich der üblen Nachrede schuldig zu machen.
Mike verbrachte einen Großteil der folgenden Woche damit, auf diese Anklage zu reagieren.
Er rief Karlsson an, der behauptete, falsch zitiert und völlig missverstanden worden zu sein. Er hätte sich ganz allgemein und nicht speziell über Ylvas Verschwinden geäußert.
Der Staatsanwalt meinte, das sei ein Fall für den Presseombudsmann.
»Wenn Sie es ganz genau lesen …«
Mike knallte den Hörer auf die Gabel und rief bei der Zeitung an.
»Meine Tochter war in Tränen aufgelöst, als ich sie heute aus der Schule abholte. Raten Sie mal, was die anderen Kinder zu ihr gesagt haben?«
Der Chefredakteur drückte sein Bedauern aus und erklärte sich bereit, eine Richtigstellung zu drucken. Das tat er dann auch. Eine kurze Notiz unter den Leitartikeln, in der stand, dass weder Polizei noch Staatsanwaltschaft
irgendeinen Verdacht gegen irgendeinen Angehörigen Ylvas hegten.
Wie die meisten anderen Dementis verschlimmerte es die Sache nur.
34. KAPITEL
Ylva lag im Bett und schaute auf den Bildschirm. Das Licht gewann die Oberhand, der Tag verdrängte die Nacht. Das waren die besten Augenblicke des Tages. Bald würde sie Sanna und Mike an verschiedenen Fenstern vorbeiflattern sehen. Eine Dreiviertelstunde später verließen sie dann das Haus und stiegen ins Auto.
Ylva starrte auf den Monitor, als hinge die Sicherheit der beiden von ihrer sorgfältigen Überwachung ab. Sie konzentrierte sich so sehr, dass alles um sie herum verschwand. Sie hatte fast das Gefühl, dort zu sein, in dem Bild von Wirklichkeit, das sie betrachtete.
Mike und Sanna hatten sich Gewohnheiten zugelegt. Man sah es an ihren routinierten Bewegungen. Wie Mike die Tür abschloss, Sanna um das Auto herumging und einstieg, sobald er die Zentralverriegelung geöffnet hatte. Ihr Kindersitz hatte jetzt seinen festen Platz auf dem Beifahrersitz. Sanna legte ihren Rucksack unter den Sitz und streckte die Hand nach dem Sicherheitsgurt aus. Vielleicht entsorgte Mike noch den Müll des Vortages, zögerte den Bruchteil einer Sekunde, bevor er den Abfall auf die richtigen Behälter verteilte.
Mike hatte seinen Arbeitstag an Sannas Stundenplan angepasst. Jedenfalls morgens. Nachmittags kam meist seine Mutter. Sie traf mit Einkaufstüten und Sanna an der Hand ein.
Ylva fragte sich, ob ihre Schwiegermutter glücklich war. Ob sie die Bedeutung, die ihr plötzlich zugefallen war, zu schätzen wusste.
Kristina hatte ebenfalls ihren Lebensgefährten verloren. Im Unterschied zu Mike hatte sie jedoch Gewissheit gehabt. Wahrscheinlich hatte sie einen großen Teil der Schuld auf sich genommen, überlegt, was sie hätte anders machen können, und sich auf diese Weise bestraft. Aber sie hatte Gewissheit gehabt.
Sanna hatte eine neue Herbstjacke bekommen. Ylva war sich sicher, dass Mike ihr erlaubt hatte, sie selbst auszusuchen. Sie glaubte nicht, dass sie so großzügig gewesen wäre.
Sobald sie aus dem Bild verschwunden waren, begann Ylva mit der Morgengymnastik. Fünf Minuten auf der Stelle marschieren, die Knie weit nach oben ziehen. Hundert Sit-ups und fünfundzwanzig Liegestütze.
Ylva hätte die Wiederholungen gerne erhöht, hatte aber Angst, sich zu verletzen und ganz auf die Gymnastik verzichten zu müssen. Das Gefühl der physischen Stärke war wichtig für ihre mentale Gesundheit.
Sie hatten Anders ermordet, sie hatten Johan ermordet. Ermordet. Der Mann hatte ihr stolz alle Einzelheiten erzählt und außerdem, was sie von ihr erwarteten.
Es habe keine Eile damit, hatte die Frau erklärt. Sie dürfe
ihr eigenes Leiden gerne in die Länge
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