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Entfuhrt

Entfuhrt

Titel: Entfuhrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koppel Hans
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Schicksalsschlag ereilt hat. Weißt du, was er geantwortet hat? Er sagte, diese Art von Schicksalsschlägen würde einen nicht ereilen. Leute, die solche Unfälle hätten, seien in der Regel leichtsinniger als andere, setzten sich unnötigen Risiken aus. Begreifst du? Er hat die Schuld auf sich genommen und es nicht einfach als maximales Pech abgetan. Den solltest du kennenlernen, er könnte dir so einiges beibringen.«
    »Sicher«, erwiderte Jörgen.
    Calle schnaubte verächtlich.
    »Frau, gesunde Kinder und jede Menge Kohle. Trotzdem sitzt du da und klagst über ein paar idiotische Versager, deren große Zeit in der Mittelstufe war. Die außerdem
nicht einmal mehr unter uns weilen. Wie viele erfolgreiche Leute kennst du, denen es in der Mittelstufe gut ging?«
    »Du hast recht«, meinte Jörgen. »Du hast recht.«
    »Natürlich habe ich recht.«
    »Aber Ylva lebt noch?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Calle. »Ich kann nicht behaupten, dass ich täglich mit ihr telefoniere. Ich glaube, sie hat einen Mann aus Schonen geheiratet oder so.«
    »Einen Mann aus Schonen?«, fragte Jörgen.
    »Ja«, meinte Calle. »Das ist fast noch schlimmer als der Tod.«
    Jörgen starrte mit leerem Blick vor sich hin.
    »Hör schon auf«, meinte Calle. »Das steht dir nicht.«
    Jörgen verstand ihn nicht.
    »Was?«, fragte er.
    »Herumzusitzen und zu grübeln.«
    »Ich dachte nur …«
    »Hör schon auf«, fiel ihm Calle ins Wort. »Das ist nicht deine Art und führt auch zu nichts.«
    Jörgen machte eine beschwichtigende Handbewegung und setzte sich anders hin.
    »Was du da eben über den Gelähmten gesagt hast, dass er es sich selbst zuzuschreiben habe …«
    Calle fragte sich, worauf er hinauswollte.
    »Vielleicht ist es bei den Jungs aus der Viererbande ja ähnlich«, meinte Jörgen.
    »Wie meinst du das?«
    »Morgan hatte Krebs, möglicherweise die Folge eines
ungesunden Lebenswandels. Anders wurde in der Innenstadt Stockholms ermordet. Und Johan kam in Zimbabwe bei einem Motorradunfall ums Leben. Wahrscheinlich war er nicht ganz nüchtern.«
    Calle schüttelte den Kopf.
    »Du bist wirklich hartnäckig«, sagte er.

    »Seltsam«, sagte Mike. »Ich denke fast mehr an meinen Vater als an Ylva. Die alten Geschichten kommen an die Oberfläche.«
    Er befand sich in Gösta Lundins Büro im fünften Stock des Helsingborger Krankenhauses. Mike würde sagen, dass sie sich mittlerweile gut kannten. Er hatte vollstes Vertrauen zu seinem Arzt.
    »Sie überlegen, was Sie hätten anders machen können?«, fragte Gösta.
    Mike wiegte den Kopf hin und her und machte ein skeptisches Gesicht.
    »Nicht so sehr das, es ist mehr ein Gefühl.«
    »Ein Gefühl?«
    »Nach dem Selbstmord meines Vaters richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf Mama und mich. Verwandte und Freunde, die Beerdigung und das alles. Der Alltag wurde dramatisch, außergewöhnlich. Das klingt vermutlich verrückt, aber es war zugleich auch irgendwie aufregend. So wie der erste Schultag oder verliebt sein. Plötzlich hatte das Leben bei aller Hoffnungslosigkeit und Trauer einen
Sinn. Ich vermute, dass ich mich, wie soll ich sagen, dass ich mich plötzlich bedeutend fühlte. Mein Gott, das klingt ja furchtbar.«
    »Überhaupt nicht.«
    »Ich meine es auch gar nicht so.«
    »Ich verstehe. Erzählen Sie weiter.«
    Mike ordnete seine Gedanken und versuchte, sie in Worte zu kleiden.
    »Das andere kam später«, sagte er.
    »Was?«
    »Die Schuldgefühle, das Unbehagen, die abgewandten Blicke. Die meisten Menschen wissen nicht, wie sie mit Trauer umgehen sollen. Nur wenige verstehen, was man wirklich braucht.«
    »Und das wäre?«, wollte Gösta wissen.
    »Die Nähe anderer Menschen«, meinte Mike und sah ihn an. »Glaube ich zumindest. Jemand, der einen nach Hause einlädt und einfach nur nett ist, der anruft und einen fragt, ob man ins Kino mitgehen will, der einen bittet, bei einem Umzug mitzuhelfen. Irgendetwas, das die Uhr weiterticken lässt.«
    Mike lächelte seinen Arzt an.
    »Die Zeit danach, nach den Ritualen und dem ganzen Schwachsinn, als der Alltag wieder einkehrte und von einem erwartet wurde, dass man die Trauer hinter sich gelassen hatte. Damals hätte ich mich über jeden noch so unpassenden Scherz gefreut, egal was, aber da war nur Abstand und Schweigen.«
    Mike lachte, betrachtete seine Hände, sah wieder auf.
    »Ich klinge wie ein alter Radiomoderator, der sich über seine furchtbare Kindheit auslässt«, meinte er. »Ich vermute, dass sich die meisten, die auf diesem

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