Entfuhrt
sei er betreten. Nour starrte ihn an. Er lächelte sie an, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht.
»Was?«, fragte Mike unsicher.
Nour schüttelte den Kopf.
»Das war der letzte Satz, den ich Ylva habe sagen hören. Wir lagen ihr damit in den Ohren, noch was mit uns trinken zu gehen, und sie sagte, sie wolle nach Hause. Jemand rief: ›Grüße an die Familie!‹, und da legte sie die Hand auf die Brust, genau wie du, und sagte: › Bei euch klingt das fast so, als sei das was Schlechtes ‹.«
Sie schwiegen einen Augenblick. Sie waren beide von
der Kraft dieser Erinnerung überrascht. Mike schluckte nervös.
»Das macht meine Mutter«, sagte er unsicher. »Sie putzt. Ich bilde mir ein, dass sie es aus Liebe tut.«
»Sie kann sich nichts Schöneres vorstellen, als dein Haus zu putzen?«, fragte Nour.
»Warum sollte ich mich ihrem Glück in den Weg stellen?«, erwiderte Mike.
Sie gingen in die Küche. Nour riss ein Stück Küchenkrepp ab und säuberte damit halbwegs ihre Schuhe.
»Ich nehme ja mal an, dass du nicht vorhast zu grillen?«
»Nein, unglaublich, dieser Wetterumschlag. Es gibt Lasagne. Vegetarische, wenn das okay ist?«
»Klingt sehr lecker. Hat die auch deine Mutter gemacht?«
»Nein, ich …«
»Papa, Stifte! Und ein Block.«
Sanna hielt ihre Geschenke in die Höhe.
»Ich habe mich daran erinnert, dass du so schön malen kannst. Dein Bild von dem Nilpferd hängt immer noch über meinem Schreibtisch. Erinnerst du dich daran?«
»So schön war das gar nicht«, sagte Sanna.
»Es ist wunderschön«, meinte Nour. »Ich schaue es jeden Tag an.«
Mike goss Wein ein und reichte ihr ein Glas.
»Sanna, Limo?«
»Jetzt nicht.«
Sie wollte zuerst ihre neuen Stifte ausprobieren.
»Skål und willkommen«, sagte Mike und hob sein Glas.
Sie kosteten den Wein.
»Gut«, sagte Nour.
Mike betrachtete seine Tochter, und dann formten seine Lippen an Nour gewandt ein lautloses Danke . Diese schüttelte den Kopf. Keine Ursache.
»Und danke, dass du gekommen bist«, sagte Mike. »Klingt vielleicht pathetisch, aber das Kaffeetrinken unlängst hat meine ganze Woche gemacht. Kann man das sagen? Gemacht? Das ist Englisch, oder?«
»Vergoldet?«, meinte Nour.
»Genau. Das Kaffeetrinken hat in der Tat meine ganze Woche vergoldet.«
Nour sah Mikes glänzende Augen. Er drehte sich schnell um und schaute in den Ofen. Nour zog sich einen Küchenstuhl heran und setzte sich neben Sanna.
»Eine Katze?«
»Pferd«, sagte Sanna.
»Natürlich. Das sieht man ja gleich.«
Nour schaute hoch. Mike stand neben der Spüle und schnäuzte sich.
»Schrecklich«, meinte er und warf das Papiertaschentuch in den Müll. »Das reinste Sensibelchen bin ich geworden.«
Er lachte verlegen.
»Mit gutem Recht«, sagte Nour.
40. KAPITEL
»Drei von vieren tot«, sagte Jörgen Petersson. »Das kann kein Zufall sein.«
Calle Collin schaute skeptisch.
»Siehst du etwa einen Zusammenhang?«, fragte er. »Morgan starb an Krebs, Anders wurde in der Fjällgatan erschlagen, und Johan hat sich in Afrika mit dem Motorrad totgefahren. Könntest du mir bitte erklären, wo da ein Zusammenhang bestehen soll?«
»Zusammenhang ist vielleicht zu viel gesagt«, meinte Jörgen. »Ich sehe das mehr als einen Beweis für die Existenz Gottes.«
Calle hob die Hände.
»Darüber scherzt man nicht«, erwiderte er.
»Ich meine es aber ernst«, sagte Jörgen. »Vielleicht wird die Welt ja ohne sie nicht besser, aber sie ist verdammt noch mal weniger schlecht.«
Calle sah ihn streng an.
»Was haben sie dir eigentlich getan? Haben sie so tiefe Wunden bei dir hinterlassen, dass du nicht einmal bedauern kannst, dass sie um mindestens 40 Lebensjahre beraubt wurden?«
»Mir?«, fragte Jörgen. »Ich habe, so gut es ging, Abstand gehalten. Trotzdem habe ich einige Male Prügel bezogen. Du kannst wirklich nicht behaupten, dass sie irgendetwas Gutes beizutragen hatten. Sie verbreiteten Angst und Schrecken. Die ganze Schule zitterte vor ihnen. Ich stand jedes Mal Todesängste aus, wenn ich an ihnen vorbeigehen musste.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Und woran kannst du dich erinnern?«
Calle schüttelte den Kopf.
»Letzte Woche habe ich einen Mann interviewt, der von der Taille abwärts gelähmt ist. Er hatte sich bei einem Kopfsprung in seichtem Gewässer das Genick gebrochen. Mit achtzehn. Er war der vermutlich positivste Mensch, der mir je begegnet ist. Ich fragte ihn, ob es ihn nicht verbittere, dass ihn in so jungen Jahren so ein
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