Entfuhrt
Seil in der Hand. Ylva wich automatisch zurück.
Marianne ging auf sie zu, Ylva ließ sich aufs Bett sinken, drehte den Kopf zur Seite und zog die Schultern hoch.
Marianne beugte sich über sie, schaute nach unten, betrachtete sie.
»Glaubst du etwa, ich begreife nicht, was du vorhast?«
Ylva schaute unsicher und ohne zu antworten hoch. Die einzigen Worte, die sie unaufgefordert aussprechen durfte, waren Danke und Verzeihung . Und die musste sie überzeugend vorbringen. Wenn Marianne auch nur die Andeutung von mangelnder Aufrichtigkeit ahnte, wurde sie bestraft.
»Das ist lächerlich«, sagte Marianne. »Du bist eine wertlose Hure und glaubst, einen Keil zwischen mich und meinen Mann treiben zu können. Ist dir jeder Realitätssinn abhandengekommen? Glaubst du wirklich, dass er dich haben will?«
Sie hielt inne und betrachtete Ylva mit derselben Resignation wie ein Lehrer ein minderbegabtes Kind.
»Glaubst du, dass dich irgendjemand haben will? Wenn
wir die Tür öffnen und dich rauslassen, was, glaubst du, würde dann passieren? Bildest du dir etwa ein, Mike würde dich zurücknehmen? Wenn er erführe, wie schamlos du dich hingegeben hast?«
Marianne klang fast amüsiert. Ihre Verachtung war vollkommen, und Sie diktierte die Bedingungen. Für Ylva war es unmöglich zu widersprechen. Alle Einwände wären wirkungslos gewesen.
Marianne hob die Hand. Ylva duckte sich reflexmäßig.
Marianne lachte.
»Warum sollte ich dich schlagen?«, sagte sie. »Das ist die Mühe nicht wert.«
Sie warf das Seil aufs Bett und ging zur Tür. Nachdem sie den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, drehte sie sich um.
»Deine Tochter war hier, habe ich das gesagt? Ich habe ihr eine Maiblume abgekauft. Ein ordentliches Trinkgeld hat sie auch bekommen. Man könnte sagen, dass wir jetzt Freundinnen sind.«
Sie öffnete die Tür und ging.
»Südlich der Trädgårdsgatan«, stellte Mike fest und sah sich mit großen Augen um.
»Unheimlich?«, fragte Nour und nippte an ihrem Kaffee.
»Ein wenig.«
»Das verstehe ich. Ich bin hier aufgewachsen.«
»Unmöglich«, meinte Mike. »Man wohnt einfach nicht südlich der Trädgårdsgatan, das tut man einfach nicht.«
»Wo bist du aufgewachsen?«, fragte Nour. »In Tågaborg?«
»In Hittarp.«
»Ist das wahr?«
Mike nickte und lächelte.
»Zurück zum Tatort«, meinte Nour und bereute im selben Moment ihre Wortwahl.
»So in etwa«, meinte Mike, ohne es sich zu Herzen zu nehmen.
»Auch noch dasselbe Haus?«
»Ganz so schlimm ist es nicht.«
»Parallelstraße?«
Mike musste lachen. Er lachte durch die Nase.
»Fast«, meinte er.
Nour nickte schweigend und nachdenklich.
»Ich hatte mal eine Freundin«, sagte sie. »Sie behauptete, der Erfolg der Menschen ließe sich auf zwei Arten messen. Ich kann mich nicht mehr an die erste Art erinnern, aber die zweite Art war die Entfernung zwischen der Gegend, in der man aufgewachsen war, und der Gegend, in der man später wohnte. Je größer diese Entfernung, desto größer der Erfolg.«
»Dann muss ich ja ein ziemlicher Versager sein«, meinte Mike. »Allerdings habe ich ein paar Jahre in Stockholm gelebt und bin in den USA zur Welt gekommen.«
»Gratuliere«, meinte Nour. »Und als ihr Sanna bekommen habt, ging’s zurück in die alte Heimat?«
»Nicht für Ylva. Sie war aus Stockholm.«
War …
Das Tempus blieb in der Luft hängen.
Nour sah Mike forschend an, der nervös schluckte. Schließlich lächelte sie ihn freundlich an.
»Denkst du oft an sie?«
Mike schob seine Tasse in die Mitte des Tisches.
»Ich weiß nicht, was ich denke«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt Worte für meine Gedanken habe. Wie denkst du? In Worten oder Bildern?«
Nour antwortete nicht.
»Sie taucht auf wie ein Flimmern«, sagte Mike. »Manchmal hat sie einen Kommentar. Sagt, ich solle die Herdplatte runterdrehen, damit das Essen nicht anbrennt, oder steht mit in die Seiten gestemmten Händen da und verdreht die Augen, wenn Sanna die falschen Kleider anzieht. Wie nennt man so was?«
»Dass sie über euch wacht?«
Mike atmete tief ein und dann seufzend wieder aus.
»Etwas in der Art. Das ist die Hölle. Hättest du Lust, mit uns zu Abend zu essen?«
»Abendessen?«
Nour zuckte zusammen. Die Frage kam so unerwartet.
»Wenn du einen Freund hast, darfst du ihn gerne mitbringen«, meinte Mike.
»Ja.«
»Okay. Schön. Am Freitag?«
»Also, ich meine, ich komme gerne, aber allein. Ich habe keinen Freund.«
»Oder wollen wir
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