Enthuellung

Motor des 911er abgestellt habe, starre ich auf die rote Tür des Hauses und nage an meiner Unterlippe. Ich bade in der Welt des Reichtums, aber ich werde nicht darin ertrinken, rufe ich mir ins Gedächtnis. Ich kann mich über Wasser halten. Ich verstecke mich nicht mehr. Ich bin ehrlich zu mir selbst. Ich habe ein Treffen mit dem berühmten, talentierten Ricco Alvarez. Warum zum Kuckuck springe ich also nicht aus dem Wagen, wenn mein Termin mit Alvarez in fünf Minuten beginnt und frühes Eintreffen einen guten Eindruck machen würde?
    Ich nehme das Tagebuch zur Hand, das gleichzeitig ein Schatz und eine Enttäuschung ist. Es bietet nicht dieselben dunklen und enthüllenden Einblicke in Rebeccas Seele, sondern enthält detaillierte Berichte über jedes Werk, das sie jemals für Riptide verkauft oder geschätzt hat. Die größten Enthüllungen sind ihre Randnotizen über das Personal, die Käufer, Verkäufer und Künstler, denen sie begegnet ist, über ihre Lebensgeschichte, ihre persönlichen Grillen und Interessen.
    Ihre Notizen über Chris sind ausgestrichen, und wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann sie nicht entziffern. Ich bin keineswegs überrascht über die verschiedenen Kunstwerke, die er über Riptide verkauft hat, um das Kinderkrankenhaus zu finanzieren. Doch ich kann jetzt nicht darüber nachdenken. Ich muss diese Zusammenkunft zum Erfolg führen, trotz des Unbehagens in mir, für das es keinen rechten Grund gibt. Rebeccas Notizen über Alvarez waren klar. Allgemein missverstanden, von Geld und Erfolg motiviert, aber auch ungeheuer großzügig.
    Ich bin nicht weit von der Galerie entfernt. Nach dem Treffen mit Alvarez sollte ich Mark anrufen. Mehrere Menschen wissen, wo ich bin. Aber … ich will nicht dumm sein. Was, wenn Mark und Alvarez die beiden Männer in dem Tagebuch sind?
    Ich angle mein Handy aus der Handtasche und drücke auf die Kurzwahltaste, unter der ich Jacobs Nummer gespeichert habe. Er antwortet beim ersten Klingeln. »Alles okay, Ms McMillan?«
    »Ja. Alles bestens. Ich wollte nur … sichergehen, dass es auch so bleibt. Ich bin wahrscheinlich paranoid, aber …«
    »Paranoid ist besser als unvorsichtig.«
    Ich habe keine Ahnung, wie viel er über Rebecca weiß oder darüber, was bei mir los ist, aber es spielt ohnehin keine Rolle. »Ich bin auf dem Weg zu einer Geschäftsbesprechung, und mein Boss weiß, wo ich bin, aber im Lichte jüngster Ereignisse hätte ich gern, dass noch jemand Bescheid weiß.«
    »Wie lautet die Adresse?«
    »Es ist das Atelier des Künstlers Ricco Alvarez«, erkläre ich, nachdem ich die Adresse durchgegeben habe. »Ich bin mir nicht sicher, wie lange das Treffen dauern wird. Es könnten fünfzehn Minuten oder zwei Stunden sein. Wenn es kurz ist, werde ich zu einer Veranstaltung zurückkehren, die in der Galerie stattfindet.«
    »Können Sie sich in einer Stunde melden, um mich wissen zu lassen, dass es Ihnen gut geht?«
    »Ich werde es versuchen, aber ich will bei dem Treffen nicht unhöflich sein.«
    »Schicken Sie mir einfach eine SMS , wenn Sie können. Das ist diskret.«
    »Gute Idee. Okay. Danke, Jacob.« Ich zögere und winde mich, stelle mir den Moment vor, in dem Jacob Chris sagt, wo ich bin. »Jacob. Erzählen Sie Chris nicht, wo ich bin, während er unterwegs ist. Er wird sich Sorgen machen. Er hatte einen schrecklichen Aufenthalt, und ich will nicht, dass er sich noch mehr sorgt.«
    »Wenn er fragt, muss ich es ihm erzählen, aber … ich werde es von mir aus nicht ansprechen.«
    »Herzlichen Dank, Jacob.«
    »Ist mir ein Vergnügen, Ms McMillan, und das meine ich ernst. Chris wirkt anders, wenn Sie da sind.«
    Das Gleiche hat seine Patentante zu mir gesagt, als wir ihr Weingut besucht haben. »Ist das gut?«
    »Das ist es. Passen Sie auf sich auf.«
    »Das werde ich.«
Hoffe ich.
Ich verabschiede mich und lege auf. Ich gebe mir keine weitere Gelegenheit, mich aufzuregen, sondern schnappe mir meine Aktentasche, steige aus dem Wagen und gehe auf die Tür zu. Mein Handy stecke ich wie üblich in meine Jackentasche.
    Ich muss nur ein paar Stufen hochgehen, dann stehe ich auf der Veranda und bin erleichtert, dass es zwei Eingänge gibt. Einer davon führt, wie ein Schild verrät, zum ATELIER . Ich klopfe an die Tür, und Ricco Alvarez öffnet sie schwungvoll. Er ist atemberaubend – zwar nicht attraktiv, aber er strahlt ein arrogantes Selbstbewusstsein aus, das eher weltgewandt als streitlustig wirkt. Seine Haut ist tief gebräunt, die Züge sind