Enthüllung
der Zunge, aber es fiel ihm partout nicht ein.
Für das Ausfallen des Telefons gab es viele mögliche Gründe. Am wahrscheinlichsten war ein Problem mit dem Nicad-Akku. Die neuen Telefone hatten wiederaufladbare N i ckel-Cadmium-Batterien; wenn sie zwischen den Gesprächen nicht völlig entladen worden waren, stellten sie sich einfach von selbst auf eine kürzere Nutzdauer ein. Man wußte dann nie, wann sie leer waren. Sanders hatte schon einige Male Batterien auswechseln müssen, weil ihre Speicherkapazität zu klein geworden war.
Er holte sein Telefon hervor und schaltete es ein. Das Lämpchen leuchtete ganz hell. Heute schien die Batterie einwandfrei zu funktionieren.
Aber da war doch etwas gewesen …
Im Auto unterwegs.
Es gab etwas, an das er nicht gedacht hatte.
Unterwegs zu einer Party.
Er runzelte angestrengt die Stirn, aber es fiel ihm einfach nicht ein. Es war nur ganz verschwommen in seinem Gedächtnis, zu unklar, um es wieder hervorholen zu können.
Aber es brachte ihn auf eine Idee: Vielleicht war ihm noch etwas entgangen. Denn je länger er die Situation überdachte, um so stärker wurde das nagende Gefühl, daß er noch etwas anderes übersehen hatte, etwas, das wohl auch Louise Fernandez entgangen war. Da war etwas, das unter all ihren Fragen an ihn gefehlt hatte. Etwas, das jeder für selbstverständlich hielt, obwohl –Meredith.
Es hatte mit Meredith zu tun.
Sie hatte ihn der Belästigung beschuldigt. Sie war zu Blac k burn gegangen und hatte ihn gleich am nächsten Morgen angeschwärzt. Aber warum? Zweifellos fühlte sie sich schuld an dem, was während des Treffens vorgefallen war. Und vielleicht hatte sie befürchtet, Sanders werde sie verpfeifen, und war ihm deshalb zuvorgekommen. In diesem Licht betrachtet, wurde ihre Anschuldigung verständlich.
Wenn Meredith aber wirklich Macht hatte, dann war es völlig überflüssig, das Thema sexuelle Belästigung überhaupt aufz u bringen; dann hätte sie ebensogut zu Blackburn gehen und ihm sagen können: »Hör zu, es funktioniert nicht mit Tom. Ich komme nicht mit ihm zurecht. Wir müssen ihn auswechseln.« Blackburn hätte es sofort getan.
Statt dessen hatte sie ihn beschuldigt, sie sexuell belästigt zu haben, und das mußte ihr peinlich gewesen sein. Denn sexueller Belästigung ging immer ein Autoritätsverlust voraus; in ihrem Fall bedeutete es, daß sie nicht in der Lage gewesen war, einen ihr Untergebenen während einer geschäftlichen Besprechung unter Kontrolle zu halten. Auch wenn wirklich etwas Unang e nehmes passiert war, würde eine vorgesetzte Person dies unter gar keinen Umständen anderen gegenüber erwähnen.
Sexuelle Belästigung hat immer etwas mit Macht zu tun.
Als kleine Sekretärin von einem stärkeren, mächtigen Mann befummelt zu werden, das war eine Sache. Eine andere war es, wenn, wie in diesem Fall, die Frau der Boß war. Meredith hatte die Macht. Warum behauptete sie dann, Sanders habe sie belästigt? Weil feststand, daß Untergebene ihre Chefs nicht belästigten. So etwas gab es einfach nicht. Man mußte rege l recht verrückt sein, um seinen Chef oder seine Chefin sexuell zu belästigen.
Sexuelle Belästigung hat immer etwas mit Macht zu tun, mit der unzulässigen Machtausübung durch eine vorgesetzte Person an einer untergebenen Person.
Wenn sie von sexueller Belästigung sprach, dann gab sie damit ironischerweise zu, daß sie Sanders untergeben war. Und das würde sie nie tun. Ganz im Gegenteil: Meredith war neu in ihrer Stellung und eifrig darauf bedacht, zu beweisen, daß sie alles im Griff hatte. Ihre Anschuldigung war daher völlig unverständlich – es sei denn, sie benützte diese Anschuldigung als bequeme Möglichkeit, ihn fertigzumachen. Sexuelle Belä s tigung hatte den Vorteil, ein Vergehen zu sein, von dessen Verdacht man sich schwerlich wieder erholte. Solange die eigene Unschuld nicht bewiesen war, galt man als schuldig – und Unschuld nachzuweisen, war eben schwierig. Ein solcher Vorwurf verunglimpfte jeden Menschen, egal wie leichtfertig die Beschuldigung ausgesprochen worden war. In dieser Hinsicht stellte der Vorwurf der sexuellen Belästigung eine äußerst wirksame Waffe dar. Die wirksamste Waffe, deren sie sich bedienen konnte.
Andererseits wollte sie keine Anzeige gegen ihn erstatten. Und die Frage war –
Warum nicht?
Sanders blieb mitten auf dem Gehweg stehen.
Das war’s!
Sie hat mir versichert, daß sie dich nicht anzeigen wird.
Warum wollte Meredith ihn nicht
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