Enthuellungen eines Familienvaters
lauter Stimme ‚ja’ zu sagen. Du verstehst nichts von Kinderpsychologie.“
Wenn man darüber nachdenkt, hat Margherita vielleicht nicht ganz unrecht.
Eines Tages begann Carlotta in der Küche zu heulen. Ich ging in die Küche und fand sie in einem Meer von Tränen allein unter dem Tisch.
„Was gibt’s?“
„Ich will die Schokoladekugeln mit der Mandel drin!“ schrie sie mit solcher Heftigkeit, daß ich für ihre kleine Lunge fürchtete. Ich vertraute sie Albertino an, lief hinunter, durchlief zwei Bezirke und kam schließlich mit den gewünschten Kugeln heim.
Carlotta hörte zu weinen auf. Sie öffnete die Tüte, löste das Papier von einer Kugel und kratzte mit dem Fingernagel, um festzustellen, ob sich unter der Schokolade tatsächlich die Mandel befand. Dann steckte sie die Kugel in den Mund.
Ich kehrte an die Maschine zurück und begann weiterzuarbeiten.
Kurz darauf erschien Carlotta bei mir. Sie trat vor mich hin, nahm die Kugel aus dem Mund und reichte mir die Tüte.
„Ich möchte lieber weiterweinen“, erklärte sie.
Dann begab sie sich unter den Tisch in der Küche zurück, begann zu weinen und zu heulen und fuhr damit eineinhalb Stunden fort, bis Margherita nach Hause kam. Ich hörte Margherita ,ja’ schreien. Dann hörte ich kein Weinen mehr.
Vielleicht hat Margherita recht, wenn sie sagt, man müsse mit den Kindern kurzen Prozeß machen. Der Jammer ist nur, daß man bei dem ständigen Gebrauch und Mißbrauch des „kurzen Prozesses“ in meinem Hause nachgerade nur noch mit der dreigestrichenen Oktave arbeitet. Der Ton erreicht auch beim gewöhnlichen Wortwechsel schwindelnde Höhen. Man spricht nicht mehr. Man schreit. Und das steht im Widerspruch zum Lebensstil eines Gentleman . Aber es hat auch seine Vorteile.
Wenn Margherita mich zum Beispiel von der Küche aus fragt, wie spät es ist, brauche ich mich nicht um eine Antwort zu bemühen, weil der Bewohner des Stockwerks über uns am Fenster erscheint und brüllt, daß es sechs oder zehn Uhr sei.
Eines Abends wiederholte Margherita mit Albertino das Einmaleins, und Albertino blieb bei sieben mal acht stecken. „Sieben mal acht?“ begann Margherita zu fragen. Und als Margherita sechsmal nach sieben mal acht gefragt hatte, hörte ich ein Klingeln an der Wohnungstür. Ich ging öffnen und sah vor mir das hektisch gerötete Gesicht des Herrn vom zweiten Stock. „Sechsundfünfzig!“ rief der Bewohner des zweiten Stocks haßerfüllt.
Als ich eines Dezembertages heimkam, beugte sich die Hausbesorgerin aus der Portierloge und sagte sarkastisch: „Weihnachtsnacht, Weihnachtsnacht — komm, o komm geschwind — was hat’s Christkind wohl gebracht — unserm braven Kind?“
„Aha“, sagte ich zu mir, „Margherita hat begonnen, den Kindern ein Weihnachtslied beizubringen.“
Vor der Wohnungstür hörte ich gerade Margheritas Stimme: „Weihnachtsnacht, Weihnachtsnacht —“
„Schweihnachtsnacht!“ antwortete Carlotta ruhig. Dann hörte ich wirre Schreie und entschloß mich, zu klingeln.
Sechs Tage später hielt mich der Wursthändler an, als er mich vorübergehen sah.
„Sonderbar“, sagte er, „so ein aufgewecktes Mädchen kann so ein einfaches Gedicht nicht erlernen. Alle im Haus können es schon, nur sie nicht.“
„Im Grunde hat sie nicht unrecht, wenn sie es nicht lernen will“, bemerkte ernst der Milchhändler, der gerade dazukam. „Es ist ein ziemlich einfältiges Gedicht. Das mit den Wannen ist viel schöner: .O Englein, von wannen — erscheint ihr, so hold — die Welt zu bespannen — mit Silber und Gold...“
Zwei Tage vor dem Heiligen Abend besuchte mich ein sehr würdiger Herr mittleren Alters.
„Meine Fenster sind gegenüber von Ihrer Küche“, erklärte er. „Ich habe ein sehr sensibles Nervensystem, verstehen Sie mich? Seit drei Wochen höre ich vom Morgen bis zum Abend schreien: ,Weihnachtsnacht , Weihnachtsnacht — komm, o komm geschwind — was hat’s Christkind wohl gebracht — unserm braven Kind?’ Offensichtlich ist diese Art von Lyrik dem künstlerischen Temperament des Mädchens nicht angepaßt, und deshalb kann sie den Text nicht erlernen. Aber das ist nebensächlich; die Sache ist die, daß ich es nicht länger aushalte. Ich muß die anderen vier Verse von Ihnen erfahren. Ich befinde mich in der Lage eines Dürstenden, der seit vierzehn Tagen hundertmal am Tage sieht, wie sich ein wassergefüllter Becher seinem Munde nähert. Sobald er aber die Lippen hineintauchen will, entfernt sich
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