Enthuellungen eines Familienvaters
der Becher. Und wenn ich dafür bezahlen sollte — helfen Sie mir!“
Ich fand das Blatt unter Carlottas Effekten.
Der Herr stürzte sich gierig auf das Blatt; dann schrieb er die vier Verse ab und ging glücklich fort. „Sie retteten mir das Leben“, sagte er lächelnd.
Am Weihnachtsabend war Margherita betrübt und untröstlich.
Wir setzten uns zu Tisch, ich fand die üblichen Briefchen unter dem Teller, und dann kam der feierliche Moment.
„Ich glaube, daß Albertino dir etwas zu sagen hat“, teilte mir Margherita mit.
Albertino kam nicht einmal dazu, das vorgeschriebene ängstliche Kind zu spielen. Carlotta stand auf ihrem Sessel und hatte schon angefangen: „O Engelein, von wannen — erscheint ihr, so hold...“ Entschlossen, verräterisch, bösartig und gemein rezitierte sie in einem Atem Albertinos Gedicht.
„Es ist meines!“ schluchzte der Unglückliche und lief fort, um sich im Schlafzimmer zu verstecken.
Margherita, die betrübt dasaß, gab sich einen Ruck, beugte sich über den Tisch zu Carlotta und blickte ihr in die Augen. „Hündin!“ schrie Margherita.
Doch Carlotta war nicht aus der Fassung zu bringen und hielt dem Blick stand. Sie war noch sehr jung, aber in ihr waren Lucrezia Borgia, die Mutter der Gracchen, Mata Hari, George Sand, die Dubarry, der Raub der Sabinerinnen und die Schwestern Karamasoff. Indessen hatte Abel nachgedacht und war wieder ruhig geworden. Albertino kam zurück, machte seine Verbeugung und deklamierte das ganze Gedicht, das Carlotta hätte lernen sollen. Da begann Margherita gerührt zu weinen und sagte, daß diese zwei Kinder ihr Trost seien.
Am Morgen kamen eine Menge Leute, um zu gratulieren; und alle versicherten, daß sie solche dramatischen Szenen nicht einmal in den erfolgreichsten Romanen gelesen hätten.
Margherita war noch immer gerührt. Sie sah mich lächelnd an, und ihre großen schwarzen Augen sagten mir: „Giovannino, Giovannino...“
Wunderliche Geschichten
Jetzt kommen einige wunderliche Geschichten. Es ist besser, das gleich zu sagen, damit sich niemand falsche Vorstellungen macht. Ein neuzeitlicher Zeitungsleser läßt sich durch nichts mehr beeindrucken. „Katze Carmen spricht kastilianisch“ — „Architekt als Taschendieb“ — „Rede spaltet Amerika in zwei Teile“... wenn einer an solche Schlagzeiten gewöhnt ist (sie sind authentisch), wird er gewiß nicht dui’ch eine von meinen sonderbaren Geschichten beeindruckt werden. Aber es kann ja Vorkommen, daß einer keine Zeitungen liest.
Heute nacht wurde Giacomino abgeholt.
Zwei Monate ist er bei mir gewesen, und ich hatte ihn liebgewonnen. Nun wird er nicht mehr auf dem Wagen meiner Schreibmaschine sitzen und mir zulächeln.
Es war damals kurz nach Mitternacht. Ich war noch immer damit beschäftigt, der Schreibmaschine kleine Ereignisse zu erzählen, die sie ihrerseits in Blau dem weißen Papier erzählte.
Plötzlich war mir, als hörte ich durch die Balkontür ein Flügelrauschen. Ich unterbrach meine Arbeit.
Es war tatsächlich ein Flügelrauschen. Vielleicht eine verirrte Taube? In meiner fernen Jugendzeit war ich nachts ausgegangen, um die Nachtigallen in ihren Nestern auszunehmen; und die Nachtigallen — sagt man — schlafen mit offenen Augen. Ich löschte das Licht, öffnete mit äußerster Vorsicht die Flügel der Balkontür und streckte langsam den Arm aus. Ich fühlte, wie sich zwischen meinen Fingern zwei warme Flügelchen bewegten; es schien eher eine Singdrossel zu sein als eine Taube. Ich schloß die Tür und zündete das Licht wieder an.
Es war keine Singdrossel; es war ein winziges Kind, eine Spanne groß, in einem weißen Hemd, das ihm bis zu den Füßen reichte, mit einem winzigen Lockenkopf und zwei winzigen Flügeln an den Schultern. Es war sehr erschrocken, aber ich liebkoste es ganz zart, und da schaute es mich mit seinen winzigen runden schwarzen Augen an und lächelte. Ich sagte irgend etwas , aber es antwortete nicht; es konnte noch nicht sprechen. Es hob den winzigen Arm und zeigte auf den Wecker. Ich setzte es auf den Tisch und stellte den Wecker vor es hin. Es begann zu spielen, und es schaute mich an und lachte, wobei es zwei Zähne zeigte, so klein wie Reiskörner.
Ich machte nun den lieben Gott darauf aufmerksam, daß es nicht gut sei, so kleine Seelen von Kindern, die noch nicht sprechen können, in der Nacht herumzuschicken.
Der liebe Gott antwortete mir nicht, und ich ging wieder daran, auf meine Maschine zu hämmern.
Das Kind
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