Entmündigt
ausgebrochen. Sie verlangten wenigstens zu Silvester ein Glas Schnaps. In der Paralytikerabteilung hatte sich ein Kranker den Schädel an der Wand eingerannt. Er wurde sofort operiert und lag auf dem OP-Tisch, als die Neujahrsglocken läuteten.
Ein frohes neues Jahr!
Dann kam der Morgen. Noch acht Tage, dachte Gisela. Sie sah zu der hohen Mauer hinüber, hinter der das Leben lag.
Würde es wirklich Freiheit bedeuten? Wer würde stärker sein …
Und es wuchs eine große Angst in Gisela, als sie die Chancen nüchtern gegeneinander abwog.
So kam der 9. Januar heran. Ein Tag voll Schnee, sonnenlos und windig.
Buddes Koffer standen gepackt in der Diele, die Flugkarten waren abgeholt. Tunis und Freund Paul Burkhs waren verständigt. Dr. Hartung hatte sich bei Ewald Peltzner zum Abendessen einladen lassen, um seine völlige Neutralität zu dokumentieren. Handgeld war in französische Franken und in tunesische Währung umgewechselt worden, in einem Geschäft der Nachbarstadt hatte Budde einige Kleider für Gisela gekauft … alles war bis ins kleinste vorbereitet. Nur das Wichtigste fehlte noch: Gisela …
Bevor Dr. Hartung zu Ewald Peltzner fuhr – er hatte einen Smoking an und trug im Knopfloch eine rote Nelke –, klopfte er Dr. Budde auf die Schulter.
»Man sollte dir die Whiskyflasche wegnehmen!« sagte er tadelnd. »Am Ende bist du um elf blau, und alles löst sich buchstäblich in Alkohol auf! Mensch, nimm dich zusammen … Kidnapping braucht Nerven!«
»Wenn du nicht den Mund hältst, vergesse ich mich!« schrie Dr. Budde. Er war bleich und saß in der Diele auf einem großen Koffer, als warte er auf dem Bahnsteig auf einen verspäteten Zug. »Schließlich ist es etwas Ungewöhnliches, seine Braut aus einem Irrenhaus zu rauben!«
»Es war dein Plan! Nun steh ihn durch, Klaus! Was wir Handlanger tun konnten, haben wir getan … 'rausholen mußt du sie schon allein!«
»Ich werde es! Und Gisela wartet gewiß schon ungeduldig …«
Dr. Hartung sah auf seine Armbanduhr. »Im Augenblick wird sie Rouge auflegen, um besonders nett auszusehen. Frauen, die man entführt, halten viel auf ihr Äußeres!«
»Hinaus!« brüllte Dr. Budde. Er sprang auf und riß die Tür fast aus den Angeln.
»Na, dann raub mal schön!« sagte Dr. Hartung. Er verließ pfeifend die Wohnung, den Mantel lose um seine breiten Schultern gehängt. Budde starrte ihm das Treppenhaus hinab nach. Er ist so sicher, dachte er. Was gäbe ich darum, ein wenig von dieser Kaltschnäuzigkeit zu haben! Nur ein nächtlicher Kontrollgänger braucht uns zu sehen … was geschieht dann? Nicht auszudenken. Es würde das endgültige Begräbnis Giselas sein.
Um halb elf Uhr nachts schleppte Dr. Budde die Koffer in seinen Wagen. Er schloß seine Wohnung ab, kontrollierte noch einmal seine Brieftasche – Flugscheine, Geld, Pässe –, steckte einen Brief in die Außentasche des Mantels und stieg dann in sein kleines Auto.
Aus einem bleiernen Himmel schneite es in dicken Flocken.
Noch zwanzig Minuten.
Der letzte Wagen fuhr durch das große Tor der Klinik. Professor v. Maggfeldt und Oberarzt Dr. Pade verließen den Park. Sie waren späte Gäste zum Medizinerball im Parkhotel. Maggfeldt und Pade trugen Fräcke und dazu rote Schleifen. Auf den Rücksitzen lagen zwei seidene Dominos.
Oberarzt Dr. Pade sah auf die Autouhr im Armaturenbrett. In einer Viertelstunde wird Gisela Peltzner frei sein, dachte er. Vor morgen früh um neun wird es Maggfeldt nicht erfahren können. Dann werden Budde und Gisela schon in Tunis sein … wenn alles gut geht …
Der Nachtpförtner der Klinik schloß sein gläsernes Büro ab und verzog sich in den Nebenraum, wo ein Feldbett und ein Radio standen. Er schaltete den Apparat ein, drehte, bis er Operettenmelodien hörte, machte es sich bequem und las einen Kriminalroman. Wenn eine Nachteinlieferung kam – und das war selten –, so würde über seinem Bett eine Klingel schrill läuten und eine rote Lampe aufflammen.
Im schloßähnlichen Hauptgebäude legte sich der wachhabende Arzt, Dr. Heintzke, ins Bett und las in einer Illustrierten. Die beiden Nachtschwestern kochten sich Tee. Im Paralytikergebäude war noch Lärm. Zwei Unheilbare hatten Streit miteinander bekommen und waren dabei, sich gegenseitig zu erwürgen. Nur mit Gewalt war es den Pflegern möglich, sie auseinanderzureißen … ihre Finger hatten sich wie Stahlklammern ineinander verkrallt. Das Geheul der beiden Tobsüchtigen drang in die Nacht hinaus und
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