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Entmündigt

Entmündigt

Titel: Entmündigt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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durchstieß den Vorhang der lautlos rieselnden, dicken weißen Flocken. Dann erstarb es plötzlich … die Injektionen hatten gewirkt. Wie Puppen ließen sie sich ins Bett bringen und schliefen sofort ein.
    Gisela lag angezogen unter der Bettdecke. Sie hatte das Licht gelöscht und preßte die Hände auf das Herz. Unter dem Bett stand gepackt ein kleiner Koffer. Sie nahm nur das Notwendigste mit.
    Noch zehn Minuten, dachte sie. Mein Gott, mein Gott, laß es gelingen …
    Dr. Budde fuhr langsam durch das Schneetreiben. Mit jedem Meter, den er sich der Klinik näherte, wurde er ruhiger. Als er die ersten Gebäude sah, die lange, hohe Mauer, die großen, voll Schnee hängenden Bäume des Parks, war es ihm, als sei es das Selbstverständlichste, in wenigen Minuten eine Strickleiter über die Mauer zu werfen und einen Menschen unter hundert unheilbaren Irren herauszuholen.
    Der Nachtpförtner gähnte in diesem Augenblick und machte eine Flasche Exportbier auf.
    Der wachhabende Arzt legte die Illustrierte weg und versuchte zu schlafen.
    Die beiden Nachtschwestern erzählten sich Erlebnisse aus dem Sommerurlaub.
    Im Paralytikerbau erloschen nun auch die Lichter.
    Im Pavillon 23 stand Gisela zitternd neben dem Fenster und wartete darauf, daß die von außen verriegelten Klappläden aufgestoßen wurden. In der Hand hielt sie den kleinen Koffer. Den Kragen ihres Mantels hatte sie hochgeschlagen, die langen, goldenen Haare unter eine Stoffmütze gepreßt.
    Im Parkhotel gaben Maggfeldt und Dr. Pade ihre Mäntel ab und schlüpften in ihre seidenen Dominos. Aus dem großen, geschmückten Saal drang die Tanzmusik hinüber in das Foyer. Dr. Pade sah auf seine Uhr.
    Jetzt steigt er über die Mauer, dachte er. Er zog die Dominokapuze über den Kopf. Ihm war plötzlich übel. Habe ich richtig gehandelt? fragte er sich. Er sah, wie fröhlich und sorglos Professor v. Maggfeldt sich in das Getümmel der Masken stürzen wollte. Morgen wird er zusammenbrechen, dachte Dr. Pade, und er fror. Morgen wird der schwärzeste Tag des Professors sein … er hat es nicht verdient. Sein ganzes Leben war Liebe und Aufopferung für seine hilflosen Kranken. Er war ihr Vater, und er litt ihre Not mit, in dem gräßlichen Wissen, daß er ihnen nicht anders helfen konnte als mit Injektionen und Schocks.
    An der Mauer keuchte Dr. Budde unter der Last der zusammengerollten Strickleiter. Dreimal warf er das schwere Ende an der Mauer hinauf, bis es überschlug. Dann ruckte er ein paarmal daran, eine Seilsprosse verhakte sich an den hohen dicken Glasscherben, die auf dem Mauerkamm in den Beton eingelassen worden waren. Ob sie hält, dachte Dr. Budde. Er hing sich an die Leiter, sie gab nicht nach. Langsam kletterte er empor, nahm, als er hinübersehen konnte, einen Hammer und zwei dicke Stahlnägel und trieb sie hinter der festgehakten Sprosse in die Mauer. Es war ihm, als seien seine Schläge wie Kanonenschüsse, die weit durch die Nacht hallten. Aber niemand hörte sie … im Schnee gingen alle Geräusche unter …
    Die Leiter war gesichert. Dr. Budde zog sie hinauf, ließ sie auf der anderen Mauerseite hinab und kletterte in den Park. Vor ihm lag in völliger Dunkelheit der Pavillon 23.
    Das dritte Fenster vor dem Eingang rechts mußte es sein. Budde zögerte nicht mehr. Mit ein paar schnellen Schritten sprang er durch den knietiefen Schnee, riß den Riegel zurück und stieß die Läden zur Seite. Das Fenster war schon geöffnet … eine schmale weiße Hand erschien in der Dunkelheit, ein Arm in einem flauschigen Mantelärmel, ein Kopf tauchte auf, schmal, bleich, unter einer Stoffmütze.
    »Klaus …«
    »Gisela …« Dr. Budde holte tief Luft. Das Herz, dachte er plötzlich. Verdammt, das Herz bleibt mir stehen!
    »Ich habe solche Angst …«, flüsterte Gisela.
    »Nichts sagen!« Dr. Budde rannte zurück, schloß die Läden wieder und schob den Riegel vor. Wenn die Stationsschwester am Morgen die Läden zurückklappte, würde sie noch nichts merken. Gisela schlief oft bei offenem Fenster, es war nichts Neues.
    »Komm!« keuchte Budde, als er zu Gisela zurückkam. »Wir wollen sehen, daß wir fortkommen.«
    Sie rannten durch den tiefen Schnee zur Mauer. Zuerst kletterte Dr. Budde hinauf und warf Giselas kleinen Koffer auf der anderen Seite hinab in den Schnee. Dann zog er Gisela die Leiter hinauf, ließ sie auf der Straßenseite hinabklettern und hakte dann die Sprosse aus den Stahlnägeln aus. Nun wurde die Leiter wieder nur von der Glasscherbe gehalten.

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