Entmündigt
Dr. Budde sah noch einmal zurück in den Park. Alles war still und weiß. Selbst ihre Spuren verwischten sich schon, flossen ineinander und schneiten zu. Am Morgen würde alles eine glatte weiße Fläche sein.
Mit einem Schwung ließ er sich auf die Leiter fallen. Er kletterte schnell hinab, aber auf halber Höhe knirschte es oben, die Glasscherbe zerbrach, und Dr. Budde fiel mit der Leiter rücklings unten auf.
Der Schnee dämpfte den Fall, aber trotzdem war es ihm, als bräche sein Rückgrat mitten durch. Stöhnend richtete er sich auf den Knien auf und umklammerte den Arm Giselas, die ihn aus dem Schnee zog.
»Bist du verletzt?« flüsterte sie. »Klaus … hast du dir weh getan?«
»Es geht schon. Es geht schon …« Budde streckte sich. In seinem Rücken stachen tausend Nadeln. Der Schmerz jagte bis zur Hirnschale und drückte auf den Augennerv. Vor seinem Blick flimmerte alles in roten und gelben Punkten.
»Komm!« Gisela faßte ihn unter und schleifte ihn fast zum Wagen. Dort setzte sie ihn vorsichtig auf den Sitz und rannte dann um den Wagen herum zum Fahrersitz. »Ich fahre«, sagte sie, als Budde stöhnend hinüberrücken wollte. »Wohin sollen wir?«
»Zum Flughafen. Die Nachtmaschine nach Marseille über Paris …«
»Nach Marseille?«
»Und weiter nach Tunis …«
»Tunis …«
»Frag nicht … fahre …!«
Buddes Kopf sank nach hinten. Er war ohne Besinnung. Gisela umkrampfte das Steuerrad. Einen Arzt, dachte sie. Wir brauchen einen Arzt! Zweihundert Meter weiter, hinter der Mauer, liegt Dr. Heintzke im Wachzimmer. Soll ich durch das Tor wieder in die Anstalt fahren … Es wäre eine Fahrt in die ewige Verbannung …
Sie starrte in das bleiche Gesicht Dr. Buddes. Lebenslanges Irrenhaus, dachte sie, oder die Freiheit. Aber ist es eine Freiheit, wenn sie Klaus kostet?
Sie biß die Zähne zusammen und ließ den Anlasser aufschnurren. Über das Steuer gebeugt, fuhr sie an, lenkte auf die Straße und raste dem großen Tor der Klinik zu.
Neben ihr stöhnte Dr. Budde in seiner Besinnungslosigkeit. Sein Kopf fiel an ihre Schulter, als sie den Wagen plötzlich bremste und hinüberstarrte in den Park.
Mit einer harten Drehung fuhr sie weiter, hinüber zur Straße, weg von dem großen Tor und der langen Mauer.
Tränen standen ihr in den Augen, als sie den Kopf Buddes zur Seite schob, ganz zärtlich und langsam, als könne er aufwachen. Dann jagte sie durch die Straßen, schleuderte um die Ecken und durch die Kurven und umklammerte das hüpfende Lenkrad, als sie mit höchster Geschwindigkeit die Ausfallstraße hinabraste, dem Flughafen zu.
Die Maschine nach Marseille rollte bereits auf die Betonstartbahn, als der kleine Wagen auf den Parkplatz des Flughafens schleuderte. In der Zollhalle ertönte die Stimme aus dem Lautsprecher, viersprachig sich wiederholend:
»Die Reisenden nach Marseille wollen sich bitte zur Zollabfertigung begeben. Maschine steht startklar auf Feld 2.«
Als Gisela bremste und ein Ruck durch den Wagen ging, schlug Dr. Budde die Augen auf. Er zog sich am Armaturenbrett nach vorn und starrte Gisela in die flackernden, ängstlichen Augen.
»Flughafen?« fragte er mühsam.
»Ja, Klaus … Ich werde sofort einen Arzt …«
»In Tunis! Laß die Koffer holen. Wenn du mich unterfaßt … es wird schon gehen …«
Er biß die Zähne zusammen, als er ausstieg. Auf Gisela gestützt, ging er langsam, Schrittchen um Schrittchen, in die Eingangshalle, zur Zollhalle und Abfertigung. Die Koffer wurden ihnen von einem Träger nachgerollt. Den Wagen ließ Dr. Budde stehen … Hartung würde ihn am Morgen mit dem Reserveschlüssel abholen.
»Die Reisenden nach Marseille …«
Die Stimme aus dem Lautsprecher riß Dr. Budde hoch. Mit bleichem Gesicht, in dessen Verzerrung der ganze, ungeheure Schmerz lag, der seinen Körper vom Rücken aus durchstach, ging er, auf Giselas Schulter gestützt, zur Abfertigung und reichte die Flugscheine und die Pässe hin.
»Ausgang 2!« sagte die Stewardeß. »Wollen Sie zur Maschine gefahren werden?«
»Nein, danke … es geht schon …« Dr. Budde versuchte ein verzerrtes Lächeln.
Mühsam humpelte er durch die Halle zum Ausgang. Draußen, an der hohen Treppe zur Maschine, standen der Zweite Pilot und ein Steward in blauen Regenmänteln. Sie nahmen den ins Flugzeug kletternden Passagieren die Bordkarten ab.
»Die Treppe …«, flüsterte Gisela. »Klaus …«
»Es geht …«
Er stieg mühsam die Stufen hinauf, ging in die Maschine, sank in die
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