Entmündigt
Wahnstimmung, sie entsprechen wahrscheinlich haargenau der Wahrheit … so schwer es ist, das Ungeheuerliche zu begreifen. Es wäre nicht der erste Fall, daß ein Gesunder in eine Irrenanstalt kommt und zu einem lebenden Leichnam gemacht wird, nur um ihn kaltzustellen! Wir haben Beispiele … berühmte Beispiele … und meistens geht es um Geld, um ein Erbe, um eine Verschleierung …«
Maggfeldt wurde immer unsicherer. Aber je mehr sich in ihm die Zweifel regten, um so gründlicher wurden seine Untersuchungen. Er war Arzt, kein Kriminalist. Und er hatte die Diagnosen von zwei Ärzten vorliegen, die er respektieren mußte.
In diesen Tagen des Zweifels kam der Bernhardiner für Frau Paulis an. Ein Wagen des Tierschutzvereins brachte ihn in die Klinik. Maggfeldt, Pade und Stationsarzt Dr. Ebert empfingen ihn wie einen neuen Patienten.
»Er heißt Bodo!« sagte der Mann vom Tierschutzverein, übergab schnell die Stammbaumpapiere, unterschrieb die Empfangsbescheinigung eines Schecks und beeilte sich, das weiße Schloß wieder zu verlassen. Er hatte genug gesehen.
Mit hoher Geschwindigkeit raste der Mann vom Tierschutzverein jetzt zurück zum Ausgangstor. Erst als sich die elektromagnetischen Gitter hinter ihm schlossen und sein Wagen auf die Straße rollte, atmete er auf.
Professor v. Maggfeldt streichelte den breiten Kopf des Bernhardiners. Ergeben sahen ihn die etwas wäßrigen Augen des großen Hundes an.
»Ab heute heißt du Ludwig«, sagte Maggfeldt zu dem Bernhardiner.
»Das wird schwer sein, wenn er seither immer auf Bodo gehört hat!« Oberarzt Dr. Pade studierte die Ahnenreihe des Hundes. »Man könnte neidisch werden, wenn man diese adeligen Namen hört, richtig heißt er Bodo von der Haardthöhe.«
»Ab heute heißt er Ludwig Paulis.«
»Wenn das gut geht, Herr Professor …« Dr. Ebert kraulte das dichte Nackenfell des Hundes. »Erstens hörte er nicht auf Ludwig, zweitens wird Frau Paulis ihn nicht annehmen, drittens werden unsere anderen Patienten Jagd auf Ludwig machen …«
»Um so mehr hat Frau Paulis zu tun, das alles zu verhindern. Das genau will ich ja. Sie soll nur noch für Ludwig leben und darüber den anderen Ludwig vergessen. Kommen Sie, meine Herren … gehen wir hinüber zu ihr …«
Frau Paulis war nach dem letzten Elektroschock wieder völlig ansprechbar geworden. Sie zeigte nur tiefe Reue über all das, was sie in ihrem Anfall angerichtet hatte. Mit ihren beiden schizophrenen Zimmergenossinnen lebte sie in bester Eintracht und in relativer Freiheit, umsorgte sie, wenn sie ihre Schübe bekamen, oder sie holte die Schwestern zu Hilfe.
Auf diesem System der Selbstkontrolle hatte Maggfeldt seine ganze Klinik aufgebaut. Er brauchte keine Isolierzellen, keine Gitterbetten, keine Zwangsjacken, keine Abteilung für Dauerbäder. Nur die Paralytiker, die im letzten Stadium ihres Hirnzerfalls nur mehr atmenden Fleischklumpen glichen, die sich am Boden wälzten oder gelähmt und sinnlos lallend herumsaßen oder -lagen, machten da eine Ausnahme.
Das Überwachungssystem in den Pavillons für Schizophrene, für Manisch-Depressive mit Selbstmordgedanken war denkbar einfach: In ein Zimmer mit drei Betten wurden immer Schwerkranke und leichtere Fälle gelegt. Die leichteren Fälle bildeten so etwas wie eine freiwillige Polizeitruppe der Klinik. Merkten sie beginnende Unruhe bei ihren Zimmergenossen, so alarmierten sie die Ärzte und Pfleger, ja sie halfen oft mit, plötzlich Tobende zu überwältigen, bis sie mit Megaphenspritzen wieder beruhigt waren. So hatten die Ärzte immer eine laufende Kontrolle auf den Zimmern. Sie konnte praktisch nie versagen, denn es war ziemlich unwahrscheinlich, daß alle Zimmerbewohner zur gleichen Zeit ihren Wahnsinnsschub bekamen.
Frau Paulis saß am Fenster ihres Zimmers und malte. Malen war ihre Lieblingsbeschäftigung. Was sie mit Wasserfarben auf die großen Blätter pinselte, waren zwar naive Bilder, meistens Blumen und Wiesenstücke, Bäume und sanfte Hügel, aber sie war dabei ruhig und zufrieden. Bei einer Ausstellung, die Professor v. Maggfeldt einmal veranstaltet hatte und von deren Erlös er später Turngeräte anschaffte, hatte Frau Paulis einen der größten Erfolge gehabt: ihre Bilder waren fast alle verkauft worden.
Erstaunt legte sie Malblock und Pinsel weg, als sie den Professor auf Pavillon III zukommen sah, an seiner Seite der große, langhaarige Bernhardiner. Er trottete zwischen dem Professor und Oberarzt Dr. Pade mit heraushängender Zunge
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