Entmündigt
niemand merken oder auch nur vermuten.
Gisela ahnte nicht, welche Gründe die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft des jungen Stationsarztes wirklich hatten. Sie fand ihn unterhaltend, klug und charmant. Er hatte große dunkelbraune Augen und lockiges, fast schwarzes Haar. Auch seine feinnervigen Hände gefielen ihr. Aber wenn seine langen, schmalen Finger ihren Körper berührten, war es ihr, als müsse sie sich dagegen wehren. Bei keinem Arzt hatte sie dieses Gefühl gehabt, immer hatte sie die Berührung als sachlich empfunden, immer hatte ein Arzt vor ihr gestanden, nicht ein Mann. Ebert aber untersuchte nicht, er streichelte. Es war ein vibrierendes Gleiten seiner Fingerspitzen über ihre Haut. Und langsam bekam sie Angst vor den Visiten.
So unerschütterlich Dr. Ebert an die Gesundheit Gisela Peltzners glaubte, so vorsichtig, aber um so gründlicher versuchte er, in seinen Gesprächen sie davon zu überzeugen, daß sie möglicherweise doch an einer geringfügigen psychischen Störung leide und daß es für sie das beste sei, einige Wochen in der völligen Ruhe der Klinik zu verbringen.
»Es war alles zuviel für Sie«, sagte Ebert und hatte Giselas Hand in seinen Schoß gelegt. »Der tragische Tod Ihres Vaters, die unangenehme Sache mit dem Testament, die Erbschaft, die Verantwortung, die auf einmal auf Sie hereinstürzte, die überschnelle Verlobung, der eingebildete Kampf gegen Ihre Verwandten …«
»Sie glauben mir also auch nicht …«, sagte Gisela traurig. Sie zog ihre Hand zurück. »Was ich auch sage und erzähle … alle lächeln im stillen darüber. Auch der Professor. Mein Gott … wie soll ich denn beweisen, daß ich gesund bin? Mehr als die Wahrheit sagen kann ich doch nicht! Ich habe einen Anwalt verlangt … man gibt ihn mir nicht! Warum?«
»Professor v. Maggfeldt will sich unbeeinflußt sein eigenes Urteil bilden. Und außerdem – nur mit einem für Sie positiven Gutachten von Professor v. Maggfeldt kann ein Anwalt etwas unternehmen.«
Gisela sprang auf. Alle beruhigenden Reden, alle Versuche, ihr den Aufenthalt so schön wie möglich zu machen, ihr die Illusion einer exklusiven Erholung zu bieten, all das hatte die fast erstickende Angst in ihr wachgerufen, man könne sie hierbehalten.
»Und wenn man sich irrt? Wenn man mich …« Sie konnte es nicht aussprechen.
Dr. Ebert verfolgte sie mit den Blicken … sie waren voll von mühsam unterdrücktem Begehren. Er versuchte zu lächeln.
»Man irrt sich nie hier … Der Professor ist eine internationale Berühmtheit. Sie müssen ihm vertrauen … uns vertrauen. Sie sollten überhaupt viel aufgeschlossener sein. Glauben Sie nicht, das Leben wäre hinter diesen Mauern gestorben. Es hat nur einen anderen Rhythmus bekommen, eine andere Ausdrucksform, eine eigene Moral. Es hat sich von überlieferten gesellschaftlichen Floskeln gelöst. Es ist elementarer …«
Gisela blieb am Fenster stehen. Ihr goldenes Haar leuchtete. Dr. Ebert spürte, wie sein Herz immer schneller, immer heftiger schlug.
»Sie sagen das«, antwortete Gisela langsam, »als müßte man Gott dafür danken, hier sein zu dürfen. Aber«, fuhr sie heftiger fort, »ich kann nicht dankbar dafür sein, daß man mich mit Irren zusammengesperrt hat. Wenn ich an die Schizophrenen im Pavillon IV denke, an die Manischen auf Station I, an die armen Epileptiker oder die Psychopathen … es ist schrecklich, was aus einem Menschen werden kann, wenn irgendwo in seinem Gehirn ein winziger, unentdeckter Teil sich verändert.«
»Glauben Sie, daß diese – Irren nicht ebenso glücklich sind wie Sie oder ich? Vielleicht glücklicher? Sie haben eine ganze Welt für sich, in die keiner eindringt und auch nicht eindringen will. Sie sind Kaiser und Bettler zugleich. Ich weiß nicht, ob man ihnen einen Gefallen tut, wenn man sie mit etlichen Elektroschocks oder Insulinkuren, durch Leukotomie und Lobotomie in das andere Leben zurückführt.«
»Das sagen Sie als Psychiater?«
»Ja.« Dr. Ebert starrte auf die hohe, schlanke Gestalt des Mädchens. »Es soll Ihnen etwas Mut geben. Sie sollen sich hier bei uns froh und frei fühlen, in einer zwar anderen, aber doch – das müssen Sie zugeben – schönen und ruhigen Welt. Und hier sollten Sie in vollen Zügen leben …«
»Was verstehen Sie darunter, Herr Doktor?«
»Alles, was Leben heißt. Auch … lieben …«
»Sie sind verrückt! Verzeihung – wenn ich das zu einem Irrenarzt sage!« Gisela wich zum Fenster zurück, als Dr. Ebert
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