Entmündigt
aufsprang und auf sie zukam. Seine dunklen Augen glänzten wie im Fieber.
»Sie sind doch ein gesundes Mädchen, Gisela …«
Plötzlich verstand Gisela Peltzner alles: Das Vibrieren seiner Finger auf ihrem Körper, seine Blicke, seine merkwürdigen Gespräche. Der Schreck, den sie in diesem Augenblick empfand, war fast noch schlimmer als bei der ersten Begegnung mit Frau Paulis. Aber diesmal hatte sie sich besser in der Hand. Sie preßte den Rücken an das Fenster und sah Ebert entgegen.
»Wenn Sie näher kommen, werfe ich Ihnen einen Stuhl an den Kopf!« Gisela umklammerte die Lehne eines der modernen Stühle, mit denen ihr großes Zimmer ausgestattet war. Dr. Ebert blieb stehen. Um seinen Mund lag ein boshaftes, überlegenes Lächeln.
»Es wäre Dummheit«, sagte er. »Man könnte es als einen Tobsuchtsanfall auslegen. Gerade hier …«
»Gehen Sie! Sofort!« sagte Gisela laut.
»Sie sind schön!« antwortete Ebert leise. »Wollen Sie diese Schönheit verleugnen oder verdorren lassen?«
»Hinaus!«
»Sie sollten überlegen … in aller Ruhe … Vielleicht lernen Sie dann erkennen, daß in der Großzügigkeit der Moral die Erträglichkeit Ihres neuen Lebens liegt.« Er lächelte wieder und wußte, daß die folgenden Worte wie Faustschläge auf Gisela wirken würden. »Was zu verlieren war, haben Sie verloren … gewinnen Sie etwas zurück … Ihr körperliches Leben … Nicht alle Irren haben diese Chance …«
Frau Paulis war bei ihrem ersten Besuch nur kurz geblieben. Sie hatte Gisela erzählt, wie man und vor allem wer im Pavillon III lebte: Die ›russische Fürstin‹, die mit verzücktem Gesicht von ihren Liebschaften mit Woiwoden und Bojaren erzählte, von Steppenritten und Liebesnächten in Kalmückenjurten und von einer Wölfin, von der sie in Jakutsk einen untreuen Liebhaber hatte zerreißen lassen.
»Dabei stammt die ›Fürstin‹ aus Plauen«, sagte Frau Paulis. »Ihr Vater hatte dort eine Spitzenfabrikation. Mit vierzig Jahren, bei der Geburt des vierten Kindes, brach auf einmal die Krankheit aus ihr heraus. Mit der Peitsche ist sie durch die Stadt gerannt, hat jeden mit ›Schmutziger Muschik‹ angeredet und verlangt, daß die Männer vor ihr niederknieten und ihr die Fußknöchel küßten. Wer es nicht tat, bekam die Peitsche zu spüren. Ja, und deshalb ist sie hierhergekommen. Jetzt, nach einigen Schocks, ist sie sanfter geworden und lebt nur noch in ihren fürstlichen Erinnerungen …«
Beim zweiten Besuch erzählte Frau Paulis die Geschichte der Generalswitwe, die eine unsterbliche Liebe zu Marschall Blücher empfand. Wenn im Zimmerradio Marschmusik ertönte, war sie nicht mehr zu halten. Sie raffte ihr Kleid hoch und marschierte im Paradeschritt vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Fenster und wieder zur Tür. Sonst saß sie still vor ihrem Schachbrett und spielte ihre Dauerpartie. Sie war harmlos bis auf die Neujahrsnacht: Marschall Blücher war in der Neujahrsnacht 1813/14 bei Kaub über den Rhein gegangen. Und jährlich zu Silvester wiederholte die Generalswitwe diesen Rheinübergang auf ihre Weise. Sie schüttete eimerweise Wasser in das Zimmer und schritt stolz durch die Riesenpfützen. Sehr zum Ärger der Ärzte hatte immer einer zu Silvester strammen Dienst, um im Pavillon III den ›Rheinübergang‹ zu verhindern. Aber die Generalswitwe fand immer neue Wege, ein paar Eimer Wasser hereinzuschmuggeln und im Kleiderschrank zu verstecken. Oft begann sie damit schon Anfang Dezember. So blieb dem Arzt, den die Witwe voll Verachtung ›den Franzos‹ nannte, meist nur noch die Möglichkeit, den ›Rheinübergang‹ mit Beruhigungsmitteln vorzeitig abzubremsen. In diesem Jahr stand das Jubiläum zum vierzehntenmal bevor. Vierzehn Jahre schon betrachtete sich die Generalswitwe als geheime Geliebte Blüchers.
Frau Paulis erzählte das alles mit einem gewissen Humor, einer Art Galgenhumor, der ein Anklammern an eine verzweifelte Fröhlichkeit war. Frau Paulis wollte einfach nicht an ihr eigenes Schicksal denken. Auch Gisela empfand das. Ihr anfänglicher Schrecken vor Frau Paulis schwand. Nach einigen Tagen erzählte sie ihr, warum sie hier war. Und Frau Paulis nickte und streichelte Gisela tröstend, wenn sie weinte. Sie nahm sich vor, sie aufzuheitern. Sie, die von einer ihr unbegreifbaren Tragik Zerschlagene, suchte in sich die Kraft, die Verzweiflung des jungen Mädchens zu bekämpfen.
Als der Bernhardiner Ludwig in die Anstalt kam, wurde alles anders: Frau Paulis hatte von da
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