Entmündigt
die Wahrheit nicht begreifen, als sei es ein Wahnbild, was sie sah …
»Klaus!« schrie sie noch einmal. »Klaus! Du bist da! Hilf mir, Klaus!«
In diesem Augenblick schnellte der Bernhardiner vor. Wie ein abgeschossener Pfeil, fast elegant und leicht, flog er durch die Luft und prallte mit seiner ganzen Wucht gegen Buddes Oberkörper.
»Gisela!« rief Klaus. Dann kippte er nach hinten über.
Budde lag auf den Rücken. Er spürte das Gewicht des Hundes auf sich, er sah die gefletschten Zähne, zwischen denen die rote Zunge gefährlich spielte, und dann spürte er den Hieb. Er hatte den Kopf heben wollen, und da schlug der Bernhardiner Ludwig mit der Tatze zu. Er schlug nach Buddes Kopf, und er riß ihm die Kopfhaut auf vom linken Ohr her durchs Haar hindurch bis über die Stirn, schlug wieder zu und wieder …
Eine Zeitlang spürte Budde noch die Hiebe. Eine Zeitlang hörte er auch noch Gisela und Frau Paulis schreien. Dann hatte er das Gefühl, man ziehe sein Gesicht über ein Reibeisen. Blut floß über seine Augen und in seinen Mund.
Die Abwehrbewegungen seiner Arme wurden schwächer. Und die Schreie der beiden Frauen wurden leiser, setzten aus, kamen noch einmal, jetzt wie durch Watte gefiltert.
Dann schwamm Buddes Bewußtsein mit dem Blut weg, das aus seinem Kopf floß …
Die Bekanntschaft zwischen Gisela Peltzner und Frau Paulis war von Professor v. Maggfeldt gefördert worden. Er sah darin eine Doppeltherapie: Einmal wurde Frau Paulis abgelenkt, zum anderen konnte Maggfeldt durch Frau Paulis erfahren, was Gisela aus ihrem Leben erzählte, wie sie ihren Aufenthalt in der Anstalt aufnahm und was sie über die Dinge dachte, mit denen sie hier in Berührung kam.
Dabei war es ein Risiko gewesen, Gisela mit Frau Paulis zusammenzubringen: Frau Paulis hatte Gisela mit einem harten Steinschlag gegen die Schulter nicht nur verletzt, sondern ihr auch auf drastische Weise gezeigt, wozu ein geisteskranker Mensch fähig sein kann.
Trotzdem hatte Oberarzt Dr. Pade das Experiment gewagt, damals, als Frau Paulis sich bei Gisela Peltzner entschuldigen wollte, damals, als Gisela noch mit einem Bluterguß in der Schulter im Bett lag. Und Pade hatte recht behalten: Gisela hatte reagiert wie ein gesunder Mensch, der genau weiß, daß man einen kranken Menschen wie Frau Paulis nicht immer für seine Taten verantwortlich machen konnte, daß man ihm verzeihen mußte und helfen sollte. Und dies alles, obgleich Gisela Peltzner noch unter dem Einfluß des Schocks stand, den die erste Begegnung mit Frau Paulis hervorgerufen hatte.
Zum erstenmal war sie damals mit einer Welt in Berührung gekommen, über die man außerhalb dieser Mauern nicht sprach oder höchstens Witze machte.
Nun erlebte sie die Wirklichkeit der toten Seelen.
Es dauerte einige Tage, bis Gisela den Schock des Angriffes von Frau Paulis auf sie überwunden hatte. In diesen Tagen kam Dr. Bernd Ebert, der Stationsarzt von Pavillon III, oft zu ihr. Er saß an ihrem Bett, er kontrollierte Puls und Herztätigkeit, er gab ihr die notwendigen Beruhigungsmittel, und er unterhielt sich lange mit ihr über Film, Theater, Reisen und – zum Erstaunen Giselas – über die Beziehungen der Geschlechter zueinander.
Vielleicht gehört das alles zur Untersuchung, dachte sie und ließ es geschehen, daß Dr. Ebert ihr über die Schultern strich oder bei der Herzuntersuchung sein Ohr auf ihre Brust preßte. »Das ist die älteste, aber beste Methode der Herzschlagkontrolle«, sagte er scheinbar leichthin.
Dr. Bernd Ebert war der einzige Arzt der Anstalt, der von Anfang an felsenfest davon überzeugt war, in Gisela Peltzner eine völlig normale Patientin vor sich zu haben. Einen tragischen oder aber – auch das hielt er für möglich – verbrecherischen Fall von Fehldiagnose. Doch das verschwieg er.
Tagelang hatte er anschließend Gisela beobachtet, die Untersuchungsprotokolle seines Chefs gelesen, jede freie Minute versucht, in ihre Nähe zu kommen. Über die ›Panne‹ mit Frau Paulis hatte er eine gefährliche Freude empfunden, von der er genau wußte, daß sie mit ärztlicher Berufsethik nichts mehr zu tun hatte, ja ihr geradezu ins Gesicht schlug: Der Zwischenfall gab ihm die Möglichkeit, als Stationsarzt von Frau Paulis, sich mehr und vor allem mit durchaus glaubwürdigen Begründungen um Gisela zu kümmern, an ihrem Bett zu sitzen und sie bei den ersten Spaziergängen zu begleiten. Daß er sie damit lediglich an seine ständige Nähe gewöhnen wollte, konnte
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