Entmündigt
Pade trat langsam in das verwüstete Zimmer. Gisela und Else Pulaczek hatte man in Nebenräumen untergebracht. Pade blieb an der Tür stehen und winkte der Kranken freundlich zu. Sie übersah es hochmütig.
»Tritt näher …«, sagte sie mit feierlicher Stimme. »Wenn du mühselig und beladen bist …« Sie unterbrach sich, sah auf Pades Hände und kniff mißbilligend die Augen zusammen. »Wo ist das goldene Tuch, mein Sohn?«
»Es wird noch gewebt. Extra für dich.«
»Mit einem Stern in der Mitte!«
»Mit drei Sternen sogar …«
»Ein Stern! Was soll ich mit Drillingen?«
»Ach so. Das ist richtig.« Dr. Pade setzte sich auf einen heil gebliebenen Stuhl. »Wie sieht es im Himmel aus?« fragte er.
»Das verrate ich nicht!« antwortete sie hoheitsvoll. Sie sah wieder auf Pade, ihr Gesicht zuckte. »Der Stern muß sieben Zacken haben …«
»Hat er …«
»Gut!« Sie war zufrieden. »Ich führe dich dafür dorthin, wo die Seligkeit wie eine Wolke ist …«
Professor v. Maggfeldt kam in den Pavillon, nachdem er noch eine Visite bei Barbara Toggen, der Leukotomierten, gemacht hatte. Er traf seinen Oberarzt auf dem Stuhl sitzend an, schwitzend und auf die Flut der Worte lauschend, die Monika Durrmar über ihn ausschüttete. Auch Maggfeldt winkte ihr zu, das zertrümmerte Zimmer übersehend und mit keinem Wort erwähnend.
»Wie lange sitzen Sie schon hier?« fragte er Dr. Pade.
»Über ein Stunde, Chef.« Pade wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sie erzählt jetzt gerade ihre Begegnung mit dem Teufel. Im Teutoburger Wald soll er gewesen sein, am Hermannsdenkmal. Abends um zehn Uhr, in einem Gebüsch …«
»Interessant.« Maggfeldt lehnte sich gegen die Zimmertür. Das verzweifelte Ausharren seines Oberarztes hatte sich gelohnt. Worauf er seit Monaten gewartet hatte, war nun geschehen … Die Kranke sprach, die Wand, hinter der das Geheimnis lag, war niedergerissen worden. Die uralte Weisheit der Psychiatrie hatte wieder gewirkt: Laßt den Kranken sprechen … sprechen … sprechen …
»Wie sah der Teufel aus, Monika?« fragte der Professor. »War er groß und stark?«
»Sehr groß und stark …«, antwortete die Irre.
»Und du konntest dich nicht wehren … Der Teufel ist immer stärker, nicht wahr? Damals, im Gebüsch … und dabei wolltest du einmal eine Nonne werden. Und nun das! Das war schlimm, wirklich. Wenn Hans nur nicht so stark gewesen wäre …«
»Er hieß Walter …«
»Der Teufel Walter war's? Sieh an!«
»Hebe dich weg, Satan!« schrie Monika Durrmar. Sie warf mit dem Holz gegen die Wand, als stehe dort der Teufel in Person. Dann hob sie segnend die Hände und sang ein Lied mit verworrenem Text.
Maggfeldt nickte Pade zu. »Megaphen … und morgen werden wir den ganzen Fall psychoanalytisch aufrollen! Anschließend drei E-Schocks und nach zwei Tagen Dauerschlaf … Wir haben den Feind in ihr entdeckt, und wir räuchern ihn aus. Kurz bevor sie als Nonne in ein Kloster eintreten wollte, ist sie im Teutoburger Wald von einem Mann mit Namen Walter vergewaltigt worden. Niemand hat das gewußt oder geahnt … Ich gratuliere, Herr Pade …«
Willenlos ließ sie sich eine Megapheninjektion geben. Ein neues Bett wurde aufgestellt, die Trümmer weggeräumt. Taumelnd wurde sie hingelegt, und kurz darauf schlief sie ein.
Dr. Pade stand an ihrem Bett und sah hinab auf das gelöste Mädchengesicht. Wie gewaltig und wie fein doch ist die menschliche Seele, dachte er. Und wie dumm ist der Ausspruch Virchows: »Ich habe tausend Körper aufgeschnitten und nie die Spur einer Seele gesehen.«
Frau Paulis wurde entlassen.
Noch einmal untersuchte Maggfeldt sie. Sie hatte dreißig Pfund zugenommen, zeigte normale Reflexe, unterhielt sich fließend und zeigte keinerlei krankhafte Erregung mehr, als der Professor auf Ludwig, ihren bei Stalingrad gefallenen Sohn, zu sprechen kam. Neben ihr lag der Bernhardiner Ludwig, den Kopf auf ihren Knien, und sah Maggfeldt aus großen wässerigen Augen an.
»Mir geht es so wie Tausenden von Müttern«, sagte Frau Paulis nur und senkte den Kopf. »Sie haben ihre Söhne dem Krieg geopfert, und sie müssen es begreifen, daß er nicht wiederkommt, auch wenn es unmöglich ist, das zu begreifen. – Habe ich mich sehr schlecht benommen … hier … bei Ihnen, Herr Professor?«
»Aber nein … Sie waren meine liebste Patientin.«
»Das sagen Sie allen, was?«
»Nein. Nur Ihnen …«
Später sah er vom Fenster seines Privatzimmers zu, wie Frau Paulis aus der
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