Entmündigt
verloren … Doch das war ja noch nicht eingetreten. Für das Sozialamt war Frau Paulis geheilt und arbeitsfähig.
»Ich bin auch gekommen, um Fräulein Peltzner zu besuchen«, sprach Frau Paulis weiter. »Wie geht es ihr? Ist sie überhaupt noch hier?«
»Ja. Sie schläft aber …« Maggfeldt sah keine Veranlassung, nicht die Wahrheit zu sagen. »Sie ist in einen Dauerschlaf versetzt worden. Sie wird noch sieben Tage schlafen.«
»Die Ärmste. Ist sie wirklich so krank? Sie sah doch aus wie ein Engel. Und immer hat sie zu mir gesagt: Daß ich hier bin, ist allein die Schuld meines Onkels! Ich bin das Opfer eines Verbrechens.«
»Das ist ihre Krankheit.« Der Professor sah auf die Uhr. In einer Viertelstunde hatte er große Visite. »Sehen Sie, ich kenne ihren Onkel persönlich. Ein netter Herr, der sich ehrlich Sorgen um seine Nichte macht. Aber wir alle hoffen, daß es nach dem Dauerschlaf besser ist. Wenn Sie in acht oder neun Tagen wiederkommen, Frau Paulis …«
»Jetzt kann ich sie nicht sehen?«
»Nein …«
»Nur einen Blick … durch die Tür …«
»Frau Paulis …?«, Maggfeldt erhob sich von der Couch, »Sie kennen doch die Klinik zu genau …«
»Schade, Herr Professor, in neun Tagen, sagen Sie? Ich komme bestimmt wieder …«
»Das ist schön. Wissen Sie, daß Sie mir mit Ihrem Besuch eine große, ganz seltene Freude gemacht haben?«
»Wirklich, Herr Professor?« Frau Paulis sah ihn zweifelnd an.
»Bestimmt. Auf eine solche Freude habe ich gewartet, solange ich hier bin.«
»Daß Sie auch Späße machen können! Auf Wiedersehen, Herr Professor …«
Maggfeldt sah ihr durch die Gardine nach, wie sie mit Ludwig die Auffahrt hinunter zum großen Tor ging. Eine Pflegerin geleitete sie.
*
Als Frau Paulis das Tor passiert hatte, ging Maggfeldt zu Gisela Peltzner hinüber. Im verdunkelten Zimmer lag sie tief schlafend in den Kissen, das lange, blonde Haar zerwühlt um den schmalen Kopf. Die Wachschwester trug gerade auf einer Tabelle die neuesten Messungen ein: Puls, Atmung, Herztätigkeit, Nahrungsaufnahme durch rektale Tropfeinläufe, Flüssigkeitsmenge der Ausscheidungen.
»Alles normal und in Ordnung, Herr Professor«, sagte sie, bevor Maggfeldt fragen konnte. Sie reichte ihm die Tabelle hin, und er studierte sie aufmerksam. Dann sah er wieder Gisela an und setzte sich auf die Bettkante.
Sie war und blieb ihm ein Rätsel. So viele Symptome trug sie offensichtlich herum, und doch war keines so ausgeprägt, daß man sagen konnte: Sie ist geisteskrank. Dann wieder brach etwas aus ihr heraus, was er nie vermutet hätte: Auflehnung, Unansprechbarkeit für Argumente, Nahrungsverweigerung, die fragliche Entgleisung mit Dr. Ebert, der aus dem Nichts kommende Nervenschock mit starkem, anhaltendem Fieber, die abrupte Verschlossenheit, die Weinkrämpfe und immer wieder die fast schon stupide anmutende Anklage: Mein Onkel Ewald ist ein Verbrecher! Ich bin das Opfer eines Verbrechens! Es geht um das Erbe …
Das alles deckte sich mit der Diagnose der einweisenden Ärzte, und doch war – Maggfeldt spürte es, ohne es erklären zu können – eine Lücke in der Annahme, daß sie an einer Zwangsneurose oder an endogenem Irresein litt. Eine winzige Lücke in der Beweisführung, eigentlich nur ein Gefühl von ihm, das ihn immer wieder nachdenklich werden ließ, sooft er Gisela sah oder mit ihr sprach.
»Hat sie einmal etwas geäußert, gelegentlich, wenn sie sich im halbwachen Zustand befand?« fragte er die Schwester.
»Nein, Herr Professor. Doch ja …« Die Schwester wurde rot. »Sie sagte: ›Klaus … warum tust du das? Ich bin doch gesund …‹«
Maggfeldt lächelte schwach. »Hm.« Er sah das gerötete Gesicht der jungen Schwester. »Das Kombinieren überlassen Sie lieber uns Ärzten.«
Auf dem Flur wartete sein übliches Visitengefolge, dazu einige neue Lernschwestern.
»Na, dann wollen wir mal!« sagte Maggfeldt etwas burschikos, und an die Neuen gewandt: »Ich begrüße Sie, meine Damen, und empfehle Ihnen gleich zu Anfang eines: Lassen Sie Ihre Nerven zu Hause. Hier werden keine Bäuche aufgeschnitten, hier spazieren wir geradewegs in die irdische Hölle.«
Er sah, wie einige Schwestern blaß wurden. Sie taten ihm leid, aber er zeigte es nicht, denn ein Chef hat keine Gefühle zu haben. Er wandte sich an Dr. Pade.
»Was machen unsere Kegelklubs?«
»Sie üben, Herr Professor. Bisher haben wir vier Fälle von Aggressivität.«
»Na also! Ist das kein Erfolg? Wir werden im nächsten
Weitere Kostenlose Bücher