Entmündigt
frischen Natürlichkeit. »Wie lange habe ich geschlafen, Herr Doktor?«
»Genau zehn Tage und sieben Stunden.«
»Es hat mir sehr gutgetan …«
»Na, wer sagt es denn!« Er zog sich den Stuhl heran und setzte sich an Giselas Bett. »Haben Sie irgendwelche Wünsche?«
»Ja, Herr Doktor.«
Gisela sah ihn an. Ihre Augen waren klar, voller Willenskraft. Alle Traurigkeit, alle Resignation, alle Angst waren wie weggewischt. So sieht keine kranke Seele aus, dachte Dr. Pade etwas benommen. Das ist gesundes, blühendes Leben. Wenn der Chef jetzt hier wäre … »Was liegt Ihnen also am Herzen?« fragte er.
»Bitte – gehen Sie für mich zu Dr. Budde, meinem Verlobten.«
Dr. Pade nickte. Während sie sprach, hatte er keinerlei Veränderungen in ihren Augen bemerkt. Es war keine Wahnidee, die sie äußerte, es war offenbar einfach ihr dringlicher Wunsch, den sie vom ersten Tag an gehabt hatte und den niemand ernst genommen hatte. Niemand, bis auf Dr. Pade.
»Ich werde in den nächsten Tagen zu ihm gehen.«
»Bestimmt?«
»Ich verspreche es Ihnen …«
»Es ist nicht wieder ein Hinhalten? Ein Eingehen auf Wünsche, um eine – Irre ruhig zu halten?«
»Sie sind nicht irr!« sagte Dr. Pade. »Sie sind gesund, Fräulein Peltzner.«
Sie sah ihn kritisch, fragend an. »Ist das Ihre wahre Meinung, Herr Doktor?«
»Meine wahre und ehrliche Meinung. Aber noch stehe ich allein mit ihr da … Darum gehe ich zu Ihrem Verlobten …«
»Sie wollen mir helfen.« Gisela ergriff seine Hand. »Sie wollen mir wirklich helfen?«
»Ich muß Ihnen helfen. Ich will nicht mitschuldig werden.«
»Und der Professor?«
»Er ist der große Idealist. Der Gläubige, vielleicht einer der letzten einer aussterbenden Rasse. Er könnte es nie begreifen, was Ärzte mit Ihnen getan haben, es würde einfach seinen ärztlichen, moralischen und menschlichen Untergang bedeuten.«
»Und Sie?« fragte Gisela leise.
»Ich gehöre einer anderen Generation an. In meinem Zeitalter ist das Gemeine das Normale.«
»Welch eine Welt …«, sagte Gisela erschaudernd.
»Wir haben sie nicht anders gewollt …«
Dr. Pade trat an das Fenster und sah hinaus in den Klinikpark. Es schneite. In dicken, schweren, trägen Flocken.
Der erste Schnee.
Ewald Peltzner hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf, als er nach kurzem Klingeln an der Tür der Fellgrubschen Villa von dem Butler René eingelassen wurde.
Er faßte den verblüfften jungen Mann an den seidenen Aufschlägen der Jacke, zog ihn mit sich fort in den großen Salon und drückte ihn in einen der tiefen Sessel.
»Ich nehme an, meine Schwester ist noch bei ihrem Make-up«, sagte Peltzner. »Das wird von Woche zu Woche länger dauern – es ist schwer, Mumien in Teenager zu verwandeln. Sehen Sie das eigentlich nicht, Sie Gigolo, daß Sie eine Großmutter besten Alters im Arm halten?«
»Was wollen Sie von mir?« René blieb sitzen. Er erkannte mit dem sicheren Blick des Ganoven, daß Ewald Peltzner aus einem anderen Holz geschnitten war als der junge Heinrich Fellgrub. Zudem trug Peltzner einen Stockschirm bei sich, und René war sich sicher, daß Peltzner damit auf ihn einschlug, wenn er nicht folgsam sein würde.
»Vernünftig reden, mein Junge!«
»Vernunft ist in meiner Lage kostbar«, sagte René voll merkantiler Weisheit. Peltzner nickte mehrmals.
»Genau das habe ich erwartet. Eine kleine Wanze, die Blut saugt, solange der Körper es hergibt. Was hat Ihnen meine Schwester versprochen?«
»Nichts. Noch nichts …«, verbesserte René schnell.
»Aber du bist sicher, daß sie etwas herausrückt?«
»Ganz sicher. Sie will ein Testament machen!«
»Auch das noch! Und ein Idiot bist du dazu, mein Junge. Ein Rindvieh!« Ewald Peltzner ließ den Stockschirm durch die Luft sausen. Es pfiff laut. René duckte sich. Er hielt es für klüger, diesen Menschen nicht weiter zu reizen.
»Soll ich Sie der gnädigen Frau melden?« fragte er.
»Der gnädigen Frau! Wenn ich das höre! Nein, laß sie in ihren Wässerchen baden … Erst unterhalten wir uns. Ganz kurz und klar … und ich will eine schnelle Antwort haben: Wieviel?«
»Was wieviel?«
»Wieviel, du erbärmlicher Hund, kostet es, wenn du dich hier aus dem Staube machst und dir ein Mädchen suchst, das dreißig Jahre jünger ist?«
»Ich liebe die Reife«, sagte Anna Fellgrubs jugendlicher Butler René. Dabei legte er die Fingerspitzen aneinander und sah zu Ewald Peltzner auf, der vor ihm stand.
»Was liebst du?« fragte Peltzner. Etwas
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