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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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noch ein weiterer Teil von Colchesters ausuferndem Vorstadtdschungel.
    Phil sah sich um. Es hatte ihn in eine Neubausiedlung aus kastenförmigen Einfamilienhäusern aus gelbem und rotem Backstein verschlagen. Ihr Äußeres schien auf eine nicht näher identifizierbare Architektur der Vergangenheit zu verweisen, die den wenig solide gebauten Häusern die Aura von Tradition und Dauerhaftigkeit verleihen sollte. Im Maklerjargon wurden sie als Häuser mit gehobenem Ambiente bezeichnet, aber den Autos nach zu urteilen, die in den Einfahrten parkten - Vaux-halls, Fords, Renaults, ein paar Volvos und Audis -, wohnten hier größtenteils mittlere Angestellte, die entweder sehr ehrgeizig waren oder größenwahnsinnig.
    Es war die Art von Siedlung, in die die Menschen aus den Innenstädten zogen, weil sie der dort herrschenden Gewalt entfliehen wollten - und weil sie fälschlicherweise annahmen, dass ihr Geld sie davor schützen würde. Nun wurden sie ausgerechnet hier mit einem brutalen Mord konfrontiert. Phil ahnte, was sie jetzt dachten: Die Menschen, denen sie hatten entkommen wollen, waren ihnen gefolgt. Aber er wusste es besser. Aus eigener trauriger Erfahrung hatte er gelernt, dass es keine Grenzen gab. Geld schützte niemanden. Nichts würde die Leute schützen. Ein Mord konnte überall geschehen.
    Das Haus, vor dem er stand, gehörte zu denen aus gelbem Backstein. Es hatte kleine, quadratische Fenster und ein Säulenvordach, das, so mutmaßte er, wohl einen Hauch von Regency verbreiten sollte. Von außen sah es ganz gewöhnlich aus, aber er würde nur die Schwelle überschreiten müssen, um in eine ganz andere, finstere Welt einzutauchen.
    Die Polizei war mit zahlreichen Einsatzkräften vor Ort. Die Straße war abgesperrt worden, man hatte weiße Zelte aufgestellt und Bogenlampen auf das Haus ausgerichtet. Neugierige Anwohner hatten sich an der Ecke versammelt. Einige waren aus ihren Häusern vertrieben worden, andere wurden von Uniformierten vernommen. Phil erblickte Anni und ging über die Straße auf sie zu. Sie sah ihn kommen und nickte.
    Er sah sich um. »Was ist passiert?«
    Anni, in Parka und Schal eingepackt, vergrub die Fäuste in den Taschen und atmete weißen Dampf aus. »Es sieht richtig übel aus, Boss«, sagte sie. »Es war unser Täter. Sie war schwanger. Vom Baby keine Spur.«
    Phil nickte, den Blick auf die Schwelle des Hauses gerichtet. »Wo ist der Ehemann?«
    Anni zeigte die Straße hinunter. »Notarzt«, sagte sie. »Er hat sie gefunden.«
    »Der arme Kerl«, sagte Phil. »Kinder?«
    »Zwei. Zwölf und zehn. Sie sind zur Großmutter gefahren.«
    »Gut.« Er wollte zum Krankenwagen gehen. Anni hielt ihn zurück.
    »Boss«, sagte sie. »Der Mann. Er verschweigt uns irgendwas.«
    »Irgendeine Ahnung, was?«
    »Er ist einfach etwas zurückhaltend, das ist alles. Sehr vage, was seinen Aufenthaltsort heute Nachmittag angeht.«
    Phil lächelte grimmig. »Ich glaube, wir wissen, was das für gewöhnlich heißt.«
    Anni nickte. »Vielleicht hat er gedacht, ich sei voreingenommen. Wahrscheinlich fällt es ihm leichter, mit einem Mann drüber zu reden.«
    Phil ging zum Krankenwagen. Es war nun stockdunkel, der Herbst ging langsam in den Winter über. Irgendwo hatte er einmal vom Vorschlag eines Schriftstellers gelesen, sechs Jahreszeiten statt der üblichen vier einzuführen. Die zwei zusätzlichen Jahreszeiten vor und nach dem Winter hatte er Rückzug und Wiederkehr genannt: eine Zeit, in der die Welt sich verschloss und in einen Zustand zurückzog, der eher dem Tod als einem Winterschlaf glich. Als er nun den Blick über die verkümmerten kahlen Bäume am Straßenrand schweifen ließ und den eisigen Wind spürte, der ihm entgegenwehte, kam ihm der Gedanke passend vor. Die Welt hatte sich tatsächlich in sich zurückgezogen. Und all ihre Geheimnisse mitgenommen.
    Er hatte den Krankenwagen erreicht. Ein Mann Mitte vierzig, leicht übergewichtig, mit schütterem, aber sorgfältig frisiertem Haar und einem Anzug, der teuer aussah, aber trotzdem nicht richtig passte, saß auf der Trage, eine Rettungsfolie um die Schultern gelegt. Er hielt einen Becher, wirkte dabei aber irgendwie weggetreten, als sei er sich gar nicht bewusst, dass der Becher da war. Als wisse er nicht einmal, dass er Hände hatte.
    Phil fiel sein Name wieder ein und er sprach ihn an. »Mr Eades?«
    Der Mann sah auf. Es war, als lägen seine Augen in tiefen dunklen Höhlen und hätten Mühe zu sehen, was draußen vor sich ging.
    »Ich bin

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