Entrissen
trink gefälligst!«
Das Baby wollte nicht.
Hester sah erst das Baby an, dann die Flasche und wusste nicht, was sie tun sollte. Gefühle taumelten in ihrem Innern so wild durcheinander, dass sie sie gar nicht zu fassen bekam. Wut, Angst, Ohnmacht. Wieder sah sie das Baby an, dann die Flasche ...
Sie stand auf. Legte das Baby wieder auf den Sessel und stellte die Flasche daneben. Es fuchtelte mit den Ärmchen und stieß die Flasche um. Milch begann aus dem Sauger zu tropfen und durchtränkte langsam die Decke, in die das Baby gewickelt war.
Hester war das egal. Daran konnte sie jetzt nicht denken. Sie musste raus. Weg von dem Baby und seinem unablässigen Geschrei.
Sie öffnete die Seitentür und trat auf den Hof hinaus. Es war dunkel geworden, und es war noch immer bitterkalt. Eine Ahnung von Regen hing in der Luft, oder noch schlimmer: Schnee. Aber auch das kümmerte Hester nicht. Sie hätte alles ertragen, um von dem Baby wegzukommen. Von seinem Geschrei, seiner Bedürftigkeit...
Sie holte tief Luft und stieß sie in einem langen Seufzer wieder aus. Sie blickte über den Fluss hinweg zu den Lichtern des Hafens. Schiffe legten an und ab, alles war wie immer. Dort gab es keine schreienden Babys. Nur das weite, offene Meer. Den Ozean. Stille. Wie sehr Hester sich wünschte, dort zu sein, meilenweit weg.
Sie seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas dachte. Aber obwohl der Hafen und das Meer bloß auf der anderen Seite der Flussmündung lagen, hätten sie genauso gut Millionen Meilen weit weg sein können. Oder sogar auf einem anderen Planeten. Sie würde niemals dorthin gelangen, nicht zum Hafen und schon gar nicht aufs Meer. Hier war ihr Zuhause. Sie würde für immer hierbleiben.
Ihre Schwester war entkommen. Oder hatte es zumindest versucht. Hester schloss die Augen. Wollte nicht schon wieder an ihre Schwester denken. An den Abend, als sie geflohen war. Der Abend, an dem sie selbst zu Hester geworden war. Nein. Der ganze Schrecken, das Geschrei, das verzweifelte Schluchzen ... Nein! Denk nicht dran. Zu schrecklich.
Ja, hatte ihr Vater gesagt. Deine Schwester ist weg. Für immer und ewig. Hester wusste, was das bedeutete. Und was sie zu tun hatte. Also war sie geblieben.
Aus dem Haus waren noch immer die Schreie des Babys zu hören. Sie schloss die Augen und versuchte, sie auszublenden, doch es war zwecklos. Also öffnete sie die Augen wieder. Und stellte fest, dass ihr Mann heimgekommen war.
Was zum Teufel ist los mit dir?,
wollte er wissen.
Was treibst du hier draußen?
»Das Baby«, sagte sie. »Es ist wegen dem Baby. Ich ...« Sie wollte sagen:
Ich schaffe das nicht,
wusste aber, dass das ihrem Mann nicht gefallen würde. Er würde sie für schwach halten, vielleicht sogar versuchen, sie loszuwerden. Wieder dachte sie an das Baby. Das sie vielleicht eines Tages ersetzen würde. Nein, das würde sie ihm bestimmt nicht verraten. Sie wollte nicht, dass er auf dumme Gedanken kam.
Das Balg macht einen Scheißlärm. Geh gefälligst rein und sorg dafür, dass es Ruhe gibt.
Sie konnte nicht antworten, schüttelte bloß den Kopf.
He,
sagte er.
Du wolltest es unbedingt haben. Jetzt kümmere dich auch drum.
»Kannst... kannst du das nicht machen?«
Na klar kann ich. Ich kann da reingehen und es zum Schweigen bringen. Dann wird es nie wieder schreien. Willst du das?
Hester überlegte einen Augenblick. Wollte sie das? Es würde alles so viel einfacher machen. So viel ruhiger. Er würde einfach ins Haus gehen und ...
Ich kann dir jederzeit ein neues besorgen. Wir haben noch die Liste ...
Sie wusste, was er meinte. Er war so sehr im Blutrausch, dass er sofort wieder losziehen wollte. Und wenn das bedeutete, dass er das Baby loswerden und ein neues besorgen musste, war ihm das auch recht. Aber nein. Sie konnte das nicht tun. Nicht nach allem, was sie durchgemacht hatten, um dieses Baby hier zu bekommen. Sie konnte es nicht einfach so loslassen.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich drum.«
Dann mach zu. Sorg dafür, dass es die Klappe hält.
Hester nickte. Sie hatte es so gewollt. Sie war eine Mutter, sie hatte sich zu kümmern. Und sie würde es schaffen. Solange ihr Mann bei ihr war, solange sie eine Familie waren, würde sie es schaffen.
Sie öffnete die Tür. Der Lärm war ohrenbetäubend. Sie ging hinein.
53
Stanway war früher einmal ein eigenständiges Dorf gewesen, aber dann war der Zoo gekommen und wenig später der Gewerbepark, und inzwischen war der Ort auch nur
Weitere Kostenlose Bücher