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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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einen war es größer, und es strampelte mehr. Es hatte sogar die Augen ein wenig geöffnet. Und es war ein Mädchen. Hester hatte leise in sich hinein gekichert, als sie nachgeschaut hatte.
    »Mein Mann wird dich mögen«, gluckste sie.
    Dann spürte sie, wie bei dem Gedanken in ihrem Innern etwas aufriss, sich Dunkelheit und Trauer ausbreiteten. Nein, hoffentlich würde er es nicht mögen. Denn das könnte bedeuten, dass er von ihr nichts mehr wissen wollte. Dann würde sie ganz allein dastehen. Sie würde mit ansehen, wie das Baby wuchs, und dabei immer daran denken müssen, dass es sie bald ersetzen würde. Das durfte nicht geschehen. Es war besser, gar keine Mutter zu sein, als eine Mutter, die am Ende betrogen wurde.
    Bei diesem Gedanken begannen die Dunkelheit und Traurigkeit in ihrem Innern zu kristallisieren und wurden schließlich ganz hart. Hesters Gesicht verzerrte sich in plötzlichem Zorn. Schwer atmend starrte sie das Baby an.
    »Wehe«, sagte sie drohend. »Wehe ...«
    Das Baby lag bloß da und schaute umher, während seine Arme und Beine krampfartig zuckten. Hester bemühte sich, nicht wütend auf das Baby zu sein. Das alles lag noch in der Zukunft. In weiter Ferne. Zunächst einmal musste sie sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Auf ihre Mutterrolle. Darauf, das Baby großzuziehen.
    Sie saß da und betrachtete es. Wie lange, wusste sie nicht. Irgendwann war aller Zorn verschwunden, und ihre Miene war wieder friedlich. Ihr Körper hatte sich entspannt, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Sie war nicht mehr wütend. Sie war wieder eine Mutter. Einfach eine Mutter. Jetzt würde sie Zeit mit ihrem Baby verbringen. Um eine Bindung aufzubauen. Zweisamkeit.
    Das war schließlich der Grund, weshalb sie sich so bemüht hatte, die Babys direkt aus den Bäuchen der Leihmütter zu bekommen. So hatten sie keine Gelegenheit, eine Bindung zu einer anderen Person aufzubauen. Sie gehörten von Anfang an ihr.
    Das Baby verzog das Gesicht. Hester ahnte, was als Nächstes kommen würde. Quengeln. Dann Geschrei. Diesmal wusste sie, was zu tun war.
    »Du hast Hunger, stimmt's? Möchtest gefüttert werden? Ein bisschen Milch? Ich hol dir welche.«
    Sie stand auf und legte das Baby auf dem Sessel ab, auf dem sie gesessen hatte. Es zappelte und schrie. Sie ging in die Küche, doch das Geschrei verfolgte sie.
    »Ist ja gut. Mami macht dir jetzt deine Milch warm ...«
    Sie stellte das Fläschchen in die Mikrowelle. Das Gerät war alt und hatte an den Ecken bereits Rost angesetzt. Die Emaille war abgeblättert, die Knöpfe waren abgenutzt, und es gab es keine Geräusche mehr von sich, aber es schien noch zu funktionieren. Wärmte immer noch das Essen.
    Das Baby plärrte weiter. Hester versuchte, es zu beruhigen, während sie auf die Mikrowelle wartete, aber es wollte einfach nicht aufhören. Sie seufzte. Das hatte sie ganz vergessen. Innerhalb so kurzer Zeit hatte sie vergessen, wie es war, wenn einem ein bestimmter Ton direkt bis ins Mark fuhr. Ins Mark und in den Kopf. Dieses gellende, drängende Schreien. Selbst wenn es aufgehört hatte, konnte man es noch hören. Erneut spürte Hester Zorn in sich aufsteigen.
    »Ich komme ja schon ...«
    Aber das Baby verstand sie einfach nicht. Oder es war ihm egal. Es schrie einfach weiter. Hester beobachtete die Mikrowelle und wartete ungeduldig auf das »Ping«. Dieses Geplärre ...
    »Sei still! Jetzt sei endlich still!« Wenn das jetzt immer so ging ... Sie erinnerte sich daran, wie es mit dem letzten Baby gewesen war, wie es geschrien, geweint und gequengelt hatte ... sie hatte das gehasst. Hätte es umbringen können. Wenn das Baby hier genauso war, dann ...
    Die Mikrowelle war fertig. Hester riss die Tür auf und schnappte sich die Flasche. Sie fühlte sich ein bisschen heiß an, aber das war Hester egal. Sie ging zurück, hob das Baby auf den Arm, legte es sich auf den Schoß und steckte ihm den Sauger in den Mund. Die Augen des Babys weiteten sich vor Überraschung, dann begann es zu nuckeln. Es saugte einmal, dann noch einmal, dann spuckte es alles wieder aus. Die Milch rann seine Wangen hinab.
    Wieder spürte Hester den Zorn in ihrem Innern, und ihr Gesicht verzerrte sich. »Was soll das, heh? Du hast gesagt, du hast Hunger! Du wolltest was zu essen haben. Hier hast du es!«
    Sie versuchte es erneut, steckte dem Baby zum zweiten Mal den Sauger zwischen die Lippen. Wieder lief die heiße Milch über die Wangen des Babys. Hesters Zorn wuchs.
    »Jetzt trink schon ...

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