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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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sie so aus, als seien sie hierhergekommen, um zu sterben. Er kniff die Augen zusammen und blickte den Weg zurück. Auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnwagenparks lag ein Feld, und jenseits des Feldes stand ein Gebäude, das wie eine ehemalige Scheune aussah. Schwarzes Spaltholz, halb verfallen. Er wandte sich an Anni.
    »Glauben Sie, das ist es?«
    »Sieht so aus«, meinte sie.
    Er richtete sich an das Team. »Unser Zielobjekt liegt dort hinten«, sagte er. »Los.« Er begab sich aufs Feld.
    »Denken Sie dran«, sagte er. »Laut Aussage der Zeugin haben wir es mit jemandem zu tun, der unter einer gespaltenen Persönlichkeit leidet. Ihr Name ist Hester, sie ist eine Transsexuelle. Aber es gibt noch eine zweite Identität, die sie ihren Ehemann nennt. Vor ihm müssen wir uns in Acht nehmen. Er ist der Mörder. Im Moment könnte sie Hester sein, vielleicht aber auch nicht. Doch egal, was passiert - mit dem Ehemann wollen wir es nicht zu tun bekommen. Also lassen Sie uns das so schnell und sauber wie möglich über die Bühne bringen, klar?«
    Lautlos setzte sich das Team in Bewegung.
     

79
     
    Die Augen des Babys waren fest geschlossen.
    »So ist es recht... braves Mädchen, so ist es gut...«
    Hester hielt das Baby mit einer Hand und streichelte ihm mit der anderen über den Hals. So zerbrechlich. So winzig war der Unterschied zwischen Leben und Tod. Wie bei einem Spielzeug. Jahrelang spielte man damit, bis man eines Tages plötzlich beschloss, es zu verbrennen oder kaputtzumachen. Einfach nur um zu sehen, wie sich das anfühlte. Und wenn alles vorbei war, hatte man einen Klumpen verschmortes Plastik oder zerbrochene Einzelteile in der Hand. Nutzlos. Man konnte sie nur noch wegwerfen.
    Und genau so war es mit dem Baby. Es würde nur einen Augenblick dauern, wenige Sekunden, nicht mal eine Minute. Dann wäre alles vorbei. Dann würde alles wieder so werden wie früher. Ihr Mann würde zurückkommen, und sie konnten wieder zusammen sein.
    Nur ein einziger Augenblick.
    Der Atem des Babys wurde langsamer und gleichmäßiger. Es schlief. Hester lächelte wieder. Sie hatte es geschafft. Sie hatte das Baby getröstet und in den Schlaf gewiegt. Wie eine richtige Mutter es getan hätte.
    Sie seufzte.
    Eine richtige Mutter.
    Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie hatte einen Plan. Sie musste ihn durchziehen. Sie musste stark sein.
    Hester legte die Kleine zurück in ihr Bettchen, ganz behutsam, damit sie nicht aufwachte. Sie deckte sie zu und betrachtete sie eine Weile. Dann kniete sie sich daneben und legte ihr vorsichtig die Hände um den Hals.
    Etwas regte sich in ihrem Innern und ließ sie innehalten.
    Sie. Sie hatte
sie
zu dem Baby gesagt. Nicht
es.
Wie eine Mutter es getan hätte.
    Vielleicht hatte das etwas zu bedeuten. Dass sie nämlich doch eine gute Mutter war. Dass sie das Baby in Wirklichkeit gar nicht hasste, dass sie doch in der Lage war, sich um ein Kind zu kümmern.
    Sie schloss die Augen. Allmählich tat ihr der Kopf weh. Nein. Sie musste es tun. Musste es töten. Das war der einzige Weg, ihren Mann dazu zu bewegen, zu ihr zurückzukehren. Solange das Baby da war, würde er nicht kommen, das wusste sie. Was auch immer sie sonst noch empfand, das wusste sie sicher.
    Also musste sie es tun. Sie musste einfach.
    Wieder legte sie ihre Hände um den Hals des Babys. Sie versuchte zu sprechen. Brachte die Worte nicht über die Lippen. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie weinte.
    »L-lebwo-ohl, Ba-by ...«
    Sie schluchzte immer noch, aber nur ganz leise, um das Baby nicht zu wecken. Und drückte zu.
     

80
     
    Das Haus war umstellt.
    Phil konnte nicht glauben, dass dort tatsächlich jemand lebte. Sein erster Eindruck hatte sich bestätigt, das Gebäude war fast vollständig verfallen, an mehreren Stellen deckten schwarze Plastikplanen und Hartfaserplatten Löcher und verrottete Stellen ab. Auf dem Dach fehlten Schindeln, und der Hof lag so voller Müll, dass es auf ihm bestimmt vor Ratten nur so wimmelte.
    Aber es war das richtige Haus. Dessen war er sich sicher.
    Das Team war in Position. Phil stand an der Haustür, neben ihm einige Männern mit Rammbock, die bereit waren, die Tür aufzubrechen.
    Er hob sein Funkgerät und gab das Signal.
    Der Rammbock wurde in Position gebracht.
    Die Tür flog aus den Angeln.
    Sie stürmten das Haus.
     
    Hester hatte die Hände gerade um den Hals des Babys gelegt, als sie den Lärm hörte.
    Es war ein ohrenbetäubender Knall, wie von einer Explosion. Zuerst hielt sie

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