Entrissen
es für ein Erdbeben oder eine Bombe. Ihr erster Gedanke: Hoffentlich wird das Baby nicht wach.
Doch dann hörte sie plötzlich Bewegung hinter sich. Gebrüll, das Gepolter von Schritten, Lichter, Menschen.
In ihrem Zuhause. In
ihrem
Zuhause.
Erschrocken drehte sie sich um und starrte fassungslos auf die Fremden. Sie versuchte zu begreifen, was passiert war, konnte es aber nicht. Sie wusste nur, dass sie Angst hatte.
Da waren Männer. Und Frauen. Einige hielten furchterregende Waffen auf sie gerichtet und brüllten sie an. Schrien Befehle. Weg von dem Baby! Auf den Boden! Und noch andere Sachen. Sie sah einen nach dem anderen an, versuchte herauszufinden, was sie von ihr wollten. Hinlegen! Weg da! Die Waffen kamen immer näher.
Ihr Herz klopfte, als wolle es zerspringen. Was sollte sie tun? Als sie sich von den Eindringlingen abwandte, schrien sie nur lauter und kamen noch näher. Sie warf einen Blick auf das Baby. Es sah aus, als würde es jeden Moment die Augen öffnen. Die Fremden hatten so viel Lärm gemacht, dass das Baby aufwachte.
In ihrer Verzweiflung schnappte sie sich das Baby und riss es aus der Wanne. Sie musste die Kleine zurück in den Schlaf wiegen, sie durfte nicht wach werden, nicht jetzt. Das Baby an die Brust gepresst, drehte sie sich wieder um.
Die Fremden waren einen Schritt zurückgewichen. Sie brüllten immer noch auf sie ein, aber jetzt waren noch mehr Befehle hinzugekommen. Legen Sie das Baby hin! Treten Sie zurück! Auf den Boden, Hände über den Kopf! Es war wie ein Spiel, bei dem sie mitspielen musste, ohne die Regeln zu kennen.
Sie drückte das Baby fest an sich.
Prompt fing es an zu weinen.
Sie schloss die Augen. Die Leute sollten verschwinden.
Während Phil ganz vorn stand und Befehle erteilte, blickte Anni sich rasch um. Als klar war, dass die Ein- und Ausgänge durch das Einsatzkommando gesichert waren, ließ sie ihren Blick durch das Innere des Hauses wandern. Es war nicht das erste Mal, dass sie mit Dreck und Elend in Berührung kam, aber diese Scheune war das Schlimmste, was sie je gesehen hatte. Genauso gut hätte man in einer verfallenen Garage oder einem Schuppen hausen können. Hier und da hatten die Bewohner versucht, für Behaglichkeit zu sorgen: Es gab Sessel und ein Sofa mit Zierdeckchen auf den Armlehnen. Aber die Möbel waren alt und verschlissen, als seien sie auf einer Müllkippe zusammengesucht worden. Eine rostige Zinkwanne diente als Babybett. Es gab auch eine Art Küchennische, aber nie im Leben hätte Anni etwas essen wollen, was dort zubereitet worden war.
Aber noch viel beängstigender war die Person, die das Baby im Arm hielt. Natürlich hatte Anni damit gerechnet, dass Hester nicht ganz normal war. Aber auf den Anblick der Gestalt, die jetzt vor ihnen stand, war sie nicht gefasst gewesen. Sie war groß, über eins neunzig, und trug ein verblichenes geblümtes Trägerkleid über mehreren Schichten Pullover und T-Shirts, dazu schmutzverkrustete alte Jeans und Stiefel. Unter einer schlecht sitzenden Perücke kam ein kahlrasierter Schädel zum Vorschein, und ihr Make-up sah aus, als sei es ohne Spiegel aufgetragen worden. Bartstoppeln im Gesicht der Frau deuteten darauf hin, dass sie sich mehrere Tage nicht rasiert hatte.
Anni versuchte ihre Abscheu zu unterdrücken und sich zu konzentrieren. Sie dachte an Graeme Eades und daran, wie er schluchzend auf dem Bett im Zimmer eines billigen Kettenhotels lag, voller Reue und von Schuld zerfressen, und sie anflehte, ihm sein Baby zurückzubringen, das Einzige, was ihm von seiner toten Frau geblieben war.
Das half.
Sie sah Phil an, der vor ihr stand und mit seiner ruhigen und festen Stimme, mit der er Verdächtige bei Verhören dazu brachte, sich ihm zu offenbaren, auf Hester einredete. Drohungen und Waffen hatten nichts genützt, sondern nur bewirkt, dass Hester Angst bekam und das Baby immer fester an sich presste. Also hatte er seine Herangehensweise geändert. Er bat sie nun freundlich, das Baby hinzulegen und vom Bettchen zurückzutreten. Aber seine Worte schienen keinerlei Wirkung zu zeigen. Anni glaubte zu wissen, warum.
Sanft legte sie ihm die Hand auf den Arm. Er wandte sich zu ihr um und sah sie fragend an. Sie bedeutete ihm mit den Augen:
Lassen Sie es mich versuchen.
Er nickte. Sie trat neben ihn.
»Ich heiße Anni«, sagte sie freundlich. »Und Sie sind Hester, stimmt's?«
Hesters Blick irrte durch den Raum wie eine Schwalbe, die in einer Scheune gefangen ist und verzweifelt den Weg ins
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