Entrissen
Welt. Aber nein. Sie hatten ja unbedingt ein Baby haben müssen. Es hatte ihr Leben vervollständigen sollen. Stattdessen hatte es sie getrennt.
Hester spürte, wie hilfloser Zorn sich in ihrem Innern breitmachte. Sie warf sich hin und her, während sie ihn herausschrie.
»Nein ... nein ... nein ... nein!«
Sie wollte nur noch, dass es vorbei war. Sie wollte die Zeit zurückdrehen, damit alles wieder so war wie früher. Nur sie und ihr Mann. Ihr Schreien erstarb. Es war hoffnungslos. Hoffnungslos.
Was sollte sie jetzt tun? Wenn ihr Mann fort war, hatte es keinen Sinn, dass sie noch blieb - ganz allein mit dem Baby. Aber sie konnte es nicht glauben. Wollte es nicht glauben. Er musste da sein. Er musste zu ihr zurückkommen.
Hester stand auf. Sie wollte einen letzten Versuch unternehmen, ihn zu finden, und wenn der fehlschlug, dann würde sie endgültig wissen, dass er sie verlassen hatte und sie selbst entscheiden musste, was sie als Nächstes tun sollte. Sie ging zur Hintertür. Als sie an dem Baby vorbeikam, schloss sie die Augen. Sie wollte es nicht sehen. Wollte nichts von ihm wissen.
Sie öffnete die Hintertür und trat auf den Hof hinaus. Still stand sie da und lauschte. Sie hörte den Fluss wie gewohnt leise rauschen. Normalerweise fand sie das Geräusch beruhigend, es klang vertraut und nach Heimat, aber jetzt kam es ihr bloß vor wie ein einsamer Ruf nach Hilfe, der niemals eine Antwort bekäme.
Sie wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann sah sie sich auf dem Hof um. Sie kannte alle Formen und ihre Schatten, jeden einzelnen Gegenstand. Angestrengt blickte sie umher. Nichts. Niemand. Er war nicht da.
Aber sie gab nicht auf. Noch nicht. Sie würde einen letzten Versuch unternehmen. Sie machte den Mund ganz weit auf und schrie. Es waren keine Worte, die sie herausschrie, bloß nackte Sehnsucht und Verlangen, Trauer und Verlassenheit. Das würde reichen, um ihn herbeizurufen, falls er da war. Sie
hoffte,
dass es reichen würde.
Sie stand ganz still und lauschte. Nichts. Nur das Rauschen des Flusses.
Sie seufzte und ging zurück ins Haus. Das Baby schrie immer noch, doch diesmal machte sie sich nicht einmal die Mühe, sich die Ohren zuzuhalten oder den Blick abzuwenden, als sie an ihm vorbeiging. Das Baby war da und ihr Mann nicht, und damit hatte es sich.
Sie kehrte zu ihrem Platz in der Küche zurück und starrte das Baby von dort aus an. Sie dachte nach, versuchte zu begreifen, wie sie in diese Lage geraten war. Alles war in Ordnung gewesen, bevor das Baby ins Haus gekommen war. Sie hatte ein schönes Leben gehabt. Jetzt war das Baby da, und ihr Mann war verschwunden. Wenn sie also das Baby beseitigte, würde ihr Mann vielleicht wiederkommen ...
Sie wusste nicht, ob ihre Schlussfolgerung stimmte, aber einen Versuch war es wert. Allerdings hatte sie es bisher nicht über sich gebracht, das Baby zu töten, wenn es wach war. Aber jetzt, mit seinem permanenten Gebrüll in den Ohren, würde es vielleicht gehen. Ja. Sie würde es schaffen. Wenn sie dadurch ihren Mann zurückbekäme, würde sie es schaffen.
Sie stand auf und ging zum Bettchen.
77
Zuerst dachte Marina, dass sie es sich nur einbildete, aber dann merkte sie, dass tatsächlich irgendwo Licht war. Weit entfernt und schwach, aber es war ein Licht.
Sie setzte sich auf und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Ganz allmählich nahm sie ihre Umgebung wahr. Gemauerte Wände, ein Boden aus Lehm, schwere Deckenbalken. Das bestätigte ihren früheren Eindruck: Sie befand sich in einem Keller. Der Raum hatte keinen viereckigen Grundriss, sondern verfügte über mehrere Nischen und Durchgänge. Auf Händen und Knien kroch sie langsam dem Licht entgegen. Jenseits des Raumes sah sie weitere Räume, die durch Tunnel miteinander verbunden waren. Wo nötig, war die Decke mit schweren Holzbalken abgestützt. An ihnen liefen Stromkabel entlang.
Sie zitterte vor Kälte. Ihre Kleider starrten vor Dreck, Arme und Beine waren mit Schrammen und Blutergüssen übersät.
An einer Wand stand eine Werkbank, groß und wuchtig, mit einer von unzähligen Riefen und Scharten übersäten Oberfläche. Werkzeuge hingen an einem Brett darüber, allesamt alt und rostig, aber noch brauchbar. Marina sah sich um und lauschte. Sie konnte nichts hören und niemanden sehen. Trotzdem spürte sie, dass sie nicht allein war. Langsam kroch sie zur Werkbank und nahm die Werkzeuge an der Wand in Augenschein: Hammer in unterschiedlichen Größen,
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