Entrissen
aufgegeben, um eine eigene Praxis zu eröffnen. Einen vermeintlich sicheren Posten - obgleich ihr am Ende an ihrem alten Berufsumfeld nichts, aber auch gar nichts mehr sicher erschienen war - gegen eine unsichere Zukunft getauscht. Dann hatte Tony, ihr langjähriger Lebensgefährte, ihr einen Heiratsantrag gemacht. Aber die größte Veränderung war die Schwangerschaft. Das Baby war ungeplant und - zumindest anfangs - ungewollt gewesen. Ganz hatte sie sich immer noch nicht mit dem Gedanken angefreundet, bald Mutter zu werden. Und wenn sie ehrlich war, glaubte sie auch nicht, dass sie sich jemals damit würde abfinden können.
Marina warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Das Taxi ließ auf sich warten. Um ihre Ungeduld zu bekämpfen und Zeit totzuschlagen, überlegte sie, was sie jetzt gerade tun würde, wenn sie noch an der Universität wäre. Wahrscheinlich würde sie sich auf ihre Lehrveranstaltung für die Drittsemester vorbereiten. Sie säße in ihrem alten Büro, würde Bücher und Notizen zusammenkramen und sich mental auf das Seminar einstimmen, das sie gleich halten würde.
Chimärische Masken und Dissoziation in der Wahrnehmung des Selbst.
Oder so etwas in der Art.
Das Selbst ... Ganz automatisch, wie so oft in der letzten Zeit, glitten ihre Hände unter ihren Mantel zu ihrem Bauch. Begannen die sanfte Wölbung zu streicheln. Sie war noch kaum sichtbar - einem zufälligen Beobachter wäre sie nicht aufgefallen -, aber Marina selbst kam sie riesig vor. Und sie würde noch viel, viel größer werden. Dieses Selbst -
ihr
Selbst - war eins, das sie kaum wiedererkannte. Wenn sie an ihr altes Leben, ihr altes Ich, zurückdachte, dann schnürte sich ihr jedes Mal die Kehle zu und sie musste mit den Tränen kämpfen.
Nein. Die Zeit des Weinens war vorbei. Seit bald vier Monaten vorbei.
In ihrem Innern regte sich etwas. Eine Art Flattern. Erschrocken fuhr sie zusammen. Versuchte, tief durchzuatmen, um sich wieder zu beruhigen.
Das ist ganz normal,
redete sie sich zu.
Dein Körper verändert sich, das ist nicht anders zu erwarten.
Ihr Körper. Eigentlich hatte sie das Gefühl, als gehöre er gar nicht mehr ihr. Sie war bloß noch ein Wirtstier, ein Brutkasten für das Kind. Eine Vorstellung, die noch erträglich war, solange sie es im Bauch trug. Aber wenn es erst einmal auf der Welt war - was wäre sie dann?
Dabei machte ihr die körperliche Seite der ganzen Angelegenheit bereits genug Angst: ein stetig anschwellender Bauch, ein Baby, das sich an ihrer Lebenskraft bediente, die Schmerzen während der Geburt, ein von Schwangerschaft und Entbindung ausgelaugter Körper ... Dann all die Jahre als Mutter ...
Ihre erste Reaktion auf die Schwangerschaft war nur ein Gedanke gewesen: es loszuwerden. Bloß raus damit, bevor es sich bei ihr einnistete und die vollständige Kontrolle über ihren Körper erlangte. Außerdem hatte sie gerade erst ihre Praxis eröffnet, und der Zeitpunkt war denkbar schlecht.
Tony hatte sofort gesagt, er sei mit allem einverstanden, ganz egal, für welche Lösung sie sich entschied. Schließlich sei es ihr Körper. Also entschloss sie sich zu einer Abtreibung. Doch als der Termin gekommen war, ließ sie ihn verstreichen. Sie konnte es einfach nicht tun.
Also hatte sie ihre Angst und Unsicherheit heruntergeschluckt und versucht, irgendwie mit der Situation klarzukommen. Schwangerschaftsyoga, Entspannungsübungen und Meditation, ausgewogene Ernährung, kein Alkohol mehr. Zum Glück gehörte sie nicht zu den Frauen, denen ständig übel war und die keinen Bissen herunterbrachten. Zumindest bisher nicht. Zu spüren, wie der Fötus in ihr wuchs, war auch so schon unheimlich genug. Das hätte es vollends unerträglich gemacht.
Beim Yogakurs hatte sie sich angemeldet, weil sie gedacht hatte, dass es ihr guttun würde, Kontakt zu anderen Schwangeren aufzunehmen. Und das war auch der Fall gewesen, allerdings nur für kurze Zeit. Nun, da sie wieder allein war, merkte sie, wie all ihre Zweifel mit Macht zurückkehrten.
Sie fragte sich, wie die anderen Frauen im Kurs sie wohl wahrgenommen hatten. Sie hatte lange dunkle Haare, dank chemischer Unterstützung ohne eine Spur von Grau. Ihr Gesicht war fein geschnitten und jugendlich für eine Sechsunddreißigjährige, wenngleich Stress und Kummer durchaus ihre Spuren hinterlassen hatten. Den Knochenbau verdankte sie ihrer italienischen Abstammung, für Stress und Kummer hatte sie selbst gesorgt. Ihre tiefliegenden Augen wirkten wie Geister, die darauf
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