Entrissen
warteten, wieder zum Leben erweckt zu werden. Sie hatte gehofft, dass dies passieren würde, wenn sie sich erst einmal mit der Tatsache abgefunden hatte, dass sie ein Kind bekam. Aber inzwischen waren fast vier Monate verstrichen und nichts war geschehen. Allmählich kamen ihr Zweifel, ob es überhaupt jemals geschehen würde. Noch immer fehlte ihr irgendetwas. Doch was?
Erneut sah sie auf die Uhr und trat von einem Fuß auf den anderen. Seinem Trinkgeld konnte der Taxifahrer schon mal Lebewohl sagen.
Irgendwo in den Tiefen ihrer Handtasche klingelte ihr Handy.
Seufzend zog sie die Hände aus den Manteltaschen. »Ja?«
»Spreche ich mit Marina Esposito?«
Sie kannte diese Stimme. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sie eingeordnet hatte, aber dann fiel es ihr wieder ein. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft. DCI Ben Fenwick. Sie atmete ganz langsam aus.
»Ben Fenwick?«
»Ganz genau. Marina. Hallo. Tut mir leid, falls es gerade ungelegen kommt, aber ich müsste Sie dringend sprechen.«
»Ach ...« Sie drehte sich um. Und da, direkt vor ihr, stand Martin Fletcher. Mit von Hass verzerrtem Gesicht kam er auf sie zu.
Sie kniff die Augen ganz fest zusammen, dann öffnete sie sie wieder. Nichts. Nur der leere Parkplatz, die Herbstkälte und das Taxi, das nicht kam. Der gedämpfte Lärm johlender Kinder im Hintergrund. Martin Fletcher war verschwunden. Aber Ben Fenwick war noch am Apparat.
»Marina? Sind Sie noch dran?«
»Ja ... ja, ich bin noch dran.«
»Hören Sie, ich würde Sie nicht bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«
Mehr musste sie nicht hören. Augenblicklich waren ihre Schutzschilde wieder oben. »Wissen Sie, ich ... ich habe viel zu tun. Könnten wir das vielleicht auf ein andermal verschieben?«
»Ich fürchte nein. Wir haben hier ein Problem.«
»Was für ein Problem denn?«
Er seufzte. »Eins der übelsten Sorte.«
Sie wollte auflegen. Einfach in ihr Taxi steigen - falls es jemals kam - und vergessen, dass Fenwick angerufen hatte.
Stattdessen hörte sie sich erneut fragen: »Was für ein Problem?«
»Wir haben einen neuen Fall, und wir brauchen Hilfe.
Ihre
Hilfe.« Er hielt inne, als überlege er, was er als Nächstes sagen sollte. »Hören Sie, ich weiß, das ist bestimmt nicht einfach für Sie ...«
Aus dem Augenwinkel glaubte sie eine Bewegung wahrzunehmen: Wieder war es Fletcher, der sich auf sie stürzen wollte. Blinde Panik stieg in ihr hoch. Sie schüttelte den Kopf und atmete tief durch.
Ihre Stimme war leise und zurückhaltend. »Worum genau handelt es sich?«
»Das ... das möchte ich lieber nicht am Telefon besprechen. Es wäre das Beste, wenn wir uns persönlich unterhalten könnten.«
Sie erschauerte.
Sag nein. Sag nein. Sag nein.
»In Ordnung. Wo?«
»Ich schicke einen Wagen, der Sie abholt.« »Wann?«
»Jetzt gleich. Wie heißt es so schön: Was du heute kannst besorgen ...«
»Aber ich bin ... ich habe zu tun. Meine Patienten warten ...« Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte lahm.
Fenwick seufzte. Ganz offensichtlich dachte er nach. »Mit Verlaub, Marina, wenn Sie erst einmal hören, was ich zu sagen habe, werden Sie höchstwahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass unser Fall Priorität hat.«
Sie schwieg und überlegte. Fenwick deutete ihr Schweigen als das Bedürfnis nach weiteren Beschwichtigungen.
»Was seinerzeit passiert ist, tut mir aufrichtig leid. Uns allen tut es leid. Es war schrecklich, unverzeihlich. Absolut. Wenn wir - wenn es irgendetwas gegeben hätte, was wir anders hätten machen können ...«
»Es war nicht Ihre Schuld«, sagte sie, aber ihre Stimme klang dünn.
Fenwick allerdings schien immens erleichtert. »Diesmal wird es ganz anders ablaufen, dafür lege ich meine Hand ins Feuer«, sagte er rasch. »Sie haben mein Wort.«
Und tatsächlich: Marina merkte, wie sich trotz allem eine gewisse Erregung in ihr breitmachte. Vielleicht war genug Zeit vergangen, und ein wenig Abwechslung würde ihr guttun.
Es ist wie eine Entbindung,
dachte sie mit einem gequälten Lächeln.
Mit der Zeit vergisst man die Schmerzen, damit es irgendwann wieder von vorne losgehen kann.
»Also gut, schicken Sie mir einen Wagen vorbei. In ein paar Stunden bin ich so weit.«
»Könnten Sie nicht schneller kommen? Es ist wirklich dringend.«
»Meinetwegen, dann eben sofort. Ich stehe gerade auf dem Parkplatz vor Leisure World. Sagen Sie dem Fahrer, er soll sich beeilen, es ist hundekalt hier draußen.«
»Danke, Marina. Er wird Sie finden.«
Sie legte
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