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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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freigegeben und hab’s auch nie getan, das schwöre ich auf das Leben meiner Kinder.« Ihre Stimme klingt aufgebracht. »Die haben mir das Sorgerecht entzogen, und ich war nicht einmal dabei!« Sie redet sich nun richtig in Rage, während sie Olaf mit verstohlenen Blicken mustert. Am Ende schlägt die Resignation in ihrer Stimme in blanken Hass um: »Die Schweine haben dich mir weggenommen!«
    DIE
,
immer sagt sie nur DIE
.
Ich habe keine Ahnung, wer sich hinter DIE verbirgt. Ich merke nur: DIE muss der Inbegriff von etwas ganz Bösem sein, von etwas, das mir nicht geheuer ist. Die Schweine. Wen meint sie damit? Ich will auf einmal gar nicht weiter nachfragen, zu deutlich spüre ich, wie sehr die Vergangenheit meine Mama plagt, und will sie nicht mit meiner Neugier quälen.
    Dann fällt ein Begriff, der bisher in meinem Wortschatz nicht existierte: Zwangsadoption. Demnach hat nicht Mama mich einer fremden Familie ausgeliefert, sondern DIE waren es. Ein unergründliches Phantom hat also über mein Schicksal bestimmt.
    Das ist zu viel für mich, ich wechsle das Thema. »Warum bist du überhaupt ins Gefängnis gekommen?«, frage ich sie.
    Nach und nach erhalte ich aus ihren Andeutungen zumindest in Umrissen eine Vorstellung von ihrem damaligen Dilemma. »Den Wunsch, in den Westen auszureisen, hatte ich schon lange«, erklärt Mama. »Deswegen haben sie mich auch die ganze Zeit auf dem Kieker gehabt.«
    Mehrmals bekam sie unangemeldete Hausbesuche von Mitarbeitern des Jugendamts, und sie hatte zudem den Eindruck, dass die Behörden über sie Erkundigungen einzogen. Mehrere Male musste sie in der örtlichen Stasi-Dienststelle zur Klärung eines Sachverhaltes antreten. Für mich sind das alles böhmische Dörfer, von denen sie da spricht. Man habe ihr vorgehalten, dass sie mehrmals von der Arbeit ferngeblieben sei. »Das war eine Falle«, beteuert sie. »Wenn sie dich in der Krippe nicht genommen haben oder wenn du krank warst, musste ich bei dir bleiben, da konnte ich gar nicht zur Arbeit!«
    Über ihr weiteres Schicksal nach der Verhaftung verliert sie nicht viele Worte. Nur ein einziges Mal im Verlauf des Gesprächs brechen ihre Gefühle hervor. Ihre Erinnerung geht zurück in das Frühjahr 1974 , die Zeit, als ich den Langenberger Kindergarten zum ersten Mal betrat. Mama war erneut verhaftet und in den Roten Ochsen in Halle eingeliefert worden, ein berüchtigtes Untersuchungsgefängnis, wie ich später erfuhr, das direkt dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt war. »Sie haben dort versucht, mich weichzuklopfen«, flüstert sie, mehr zu sich selbst. Es fällt Mama sichtlich schwer, sich ihren Erinnerungen zu stellen.
    Das wenige, was sie berichtet, ist für mich schon befremdlich genug. So will sie erlebt haben, wie einige Aufseher Häftlinge in einen Bretterverschlag steckten und ihnen stundenlang Wasser über den Kopf schütteten. Oder hatte sie das etwa auch am eigenen Leib erfahren? Ihrer Darstellung der Situation lässt sich das nicht entnehmen. »In die Einzelzellen«, erzählt Mama weiter, »konnten die Beamten jederzeit ein Gitter einziehen. Dann war die Insassin von der Kloschüssel getrennt. Das war eine abscheuliche Schikane, denn man musste sein Geschäft auf dem Boden verrichten.«
    Eine andere Demütigung habe darin bestanden, das Bett an der Wand hochzuklappen und zu verriegeln, um die Gefangenen am Schlafen zu hindern. »Und wenn sie willkürlich das Zellenlicht ein- und ausgeschaltet haben«, berichtet Mama, »dann wusstest du bald nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist. Schlafmangel, das ist Folter.« Sogar sexuelle Übergriffe durch Wärter und Mithäftlinge soll es gegeben haben, wie ich Mamas Andeutungen entnehme.
    Ich mustere Olaf mit einem Seitenblick, kann aber keine Reaktion ablesen. Weiß er davon? Kann es solche Dinge überhaupt gegeben haben? Für mich klingen Mamas Geschichten wie Erzählungen aus einem unbekannten Land. Dass Menschen in unserer ehemaligen Republik zu solchen Untaten imstande gewesen sein sollen, kann ich nicht glauben – ich will es auch gar nicht. Es passt nicht in die Vorstellung, die man mir von unserem Staat vermittelt hat.
    Sicher gab es Schwächen und Fehler, das ist selbst mir nicht entgangen. Aber die geschilderte Perfidie, ein solches Maß an Menschenverachtung, das findet in meinem Bild von der DDR keinen Platz. Ich befürchte daher, dass meine Mama in ihrer Not vielleicht von Wahnvorstellungen heimgesucht wurde. Wer weiß, was von alldem wirklich so

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