Entrissen
sie ist von kleiner Statur wie ich und hat um den Mund einen warmherzigen Zug. In ihren Augen mag ich wie ein entferntes Spiegelbild erscheinen. Ohne Scheu bittet Mama mich in ihre einfache Bleibe. In diesem Heim bin ich willkommen, das spüre ich.
Mir fällt auf, dass die Behausung sich von den Siedlungshäusern und Plattenbauten, die ich bisher kannte, deutlich unterscheidet. Das ganze Gebäude ist schon etwas in die Jahre gekommen, ein Zimmer hat so feuchte Wände, dass es nicht mehr benutzbar ist. Die Wohnküche dagegen wirkt geräumig und gemütlich. Einweckgläser stehen auf einem Seitenregal. Auf vertraute Weise fühle ich mich in das Heim meiner Adoptivgroßeltern in Bad Köstritz versetzt. Vom Fenster aus gebe ich Olaf den Wink, mit den Kindern hochzukommen. Als er mit Benni auf dem Arm und Julia an der Hand in der Tür erscheint, nimmt Mama sie nicht minder liebevoll in Empfang. Die Geste, mit der sie meinen Mann begrüßt, kommt von Herzen, und unseren Kindern streicht sie sichtlich bewegt übers Haar.
Besonders an meiner Tochter, die gleich unbefangen in die Stube stolziert, scheint sie auf Anhieb einen Narren gefressen zu haben. Vielleicht mag Julia ihr wie ein fernes Ebenbild ihrer kleinen Katrin anmuten, die sie damals verloren geben musste und die nun unverhofft selbst als Mutter wieder vor ihr steht.
Ich habe so viele Fragen, die sich ein Leben lang angesammelt haben, und weiß doch nicht, was ich sagen soll. Daher bin ich froh, meiner Mama erst einmal meinen Mann und meine Kinder vorstellen zu können. Mama bewundert ihre Enkelkinder, ich bewundere ihr Strickwerk.
»Julia ist genau wie du damals«, sagt sie, aber es gelingt ihr nicht, ihrer Stimme einen versonnenen Klang zu geben. Dann macht sie sich am Herd zu schaffen.
Kaum haben wir uns einen Platz zum Sitzen gesucht, geht die Tür auf, und ich darf meine Halbschwester kennenlernen, die Tochter meiner Mama mit ihrem jetzigen Mann. Melanie ist zwölf. Sie hat noch einen zehnjährigen Bruder, Danny, der gerade bei einem Freund ist. Auf Anhieb ist mir Melanie sympathisch. Erst durch meinen Brief haben sie und Danny überhaupt von meiner Existenz erfahren. Ich mag ihr fremd erscheinen und muss mich selbst erst an den Gedanken gewöhnen, meine Mutter nun mit kleineren Geschwistern zu teilen. Doch schon mit dem Handschlag erscheint es meiner Halbschwester selbstverständlich, dass ich mit zur Familie gehöre. Rührend nimmt sie sich meiner Kinder an und geht mit ihnen an die frische Luft zum Spielen.
Als Mama mit frisch gebrühtem Kaffee zurückkommt, überwinde ich mich und stelle ihr als Erstes die Frage, die seit Kindertagen mein Denken beherrscht: »Was ist damals passiert? Du hast doch gesagt, du wolltest abends wiederkommen, und dann bist du einfach nicht mehr aufgetaucht, nie mehr?«
Sie wirkt kein bisschen überrascht von meiner plötzlichen Attacke und antwortet äußerlich ruhig, fast sanft, wobei ich spüre, wie ihre Stimme leicht bebt. »Ich konnte nicht zurückkommen, Katrin«, sagt sie leise. »Ich war im Gefängnis.«
Für einen Moment lastet angestrengtes Schweigen im Raum.
»Ja«, erwidere ich zögernd, »aber warum hast du mich nicht gesucht, als du aus der Haft freigekommen bist?«
Wieder lässt sie mich spüren, dass sie meine Fragen gut versteht. Sie macht nicht den Eindruck, als stünde sie unter Rechtfertigungszwang. »Das durfte ich nicht, das war verboten. Sie haben mir sogar zur Auflage gemacht, dass ich keinen Kontakt zu dir aufnehmen darf. Trotzdem habe ich es einmal versucht, dich aber leider nicht gefunden.« Sie habe jedes Mädchen in meinem Alter gemustert, ob ich das sein könne – vergebens, berichtet sie weiterhin. Mirko durfte zu seiner Mutter nur unter der strikten Auflage des Jugendamts, ihr meinen Aufenthaltsort keinesfalls preiszugeben. Anders als mein Bruder, der bereits zur Schule ging, war ich als Kindergartenkind nach Ansicht der Behörden noch jung und vermeintlich formbar genug für eine Adoption. Und diese neue Familienbeziehung sollte wohl nicht durch Störmanöver aus dem früheren Leben beeinträchtigt werden.
So richtig zufrieden stellt mich Mamas Auskunft dennoch nicht. Ich habe, wie zuvor schon so oft bei meiner Adoptivmutti, das Gefühl, dass sie mit etwas hinter dem Berg hält. Ich sitze da mit einem Rucksack voller Fragen und weiß nicht so recht, wie er zu leeren ist.
Meiner Mama entgeht meine Skepsis nicht, und so beteuert sie mit Nachdruck: »Ich hätte dich nie von mir aus
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