Entrissen
unserem Postkasten. »Ihr seid mir jederzeit gerne willkommen!«, schrieb sie.
Bei Greiz, 6 . April 1991
Ich darf nicht mehr länger zögern, vielleicht hat sie uns schon kommen sehen. Olaf wartet mit den beiden Kindern in unserem anthrazitfarbenen Renault vor dem Haus. Als ich auf die Plasteklingel drücke, zittert meine Hand etwas. Ich sehe mich selbst wie eine Fremde in diesem schmalen Hauseingang stehen, mitten in einem Dorf bei Greiz im Norden Thüringens, nervös, mulmig, bang, wie ferngesteuert, wie in einem Film.
Auf dem Klingelschild steht kein Name. Vor lauter Aufregung habe ich schon wieder vergessen, wie meine Mama inzwischen mit Nachnamen heißt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir jemals so beklommen zumute war. Mein ganzes bisheriges Leben scheint auf diesen Moment ausgerichtet. Wie oft habe ich in meiner Kindheit und Jugend jede Frau, die ungefähr im Alter meiner leiblichen Mutter war und aussah, als würde sie suchend Ausschau halten, prüfend gemustert: Könnte das meine vermisste Mama sein? Nun mündet alles Warten, Suchen, Bangen und Sehnen in diesen einen Augenblick, der mir hoffentlich ein Wiedersehen bringen wird.
Der Brief in meiner Hand ist inzwischen vollkommen zerknittert. Er trägt die Spuren meiner Aufregung während der gesamten Fahrt. Immer wieder aufs Neue habe ich mir die Zeilen in ihrer sorgfältigen Handschrift durchgelesen. Sie schreibt, dass sie sich ehrlich freue, mich wiederzusehen. So tief sitzt noch immer die Enttäuschung, verlassen worden zu sein, in mir, dass ich ernsthaft überlege, ob sie das wirklich so meint. Wieso will sie mich jetzt sehen, nachdem sie vorher offenbar nicht nach mir gesucht hat? Ist das bloß wieder eine dieser Floskeln?
Ich muss meine aufkommende Nervosität zügeln, in meiner Fantasie nicht zu große Erwartungen aufbauen. Beim Blick auf den Brief fällt mir ein, dass unser Besuch für Mama trotz ihrer Einladung einem Überfall gleichen muss. Wie die meisten Bewohner der neuen Bundesländer verfügt sie noch immer nicht über einen eigenen Telefonanschluss, daher konnte ich ihr unser Kommen nicht ankündigen. Für einen Brief war die Vorlaufzeit leider zu kurz. Vor zwei Tagen erst hat sie mir geschrieben, und ich wollte keine Zeit mehr verlieren.
So stehe ich an diesem Samstag nach Ostern im Jahr 1991 unangemeldet vor der Tür der angegebenen Adresse und fühle mich tief verunsichert: Stimmt die Anschrift? Passt ihr der Besuch? Ist sie überhaupt zu Hause? Aus dem Fenster im ersten Stock beugt sich eine Bewohnerin mittleren Alters. Ist sie das? In meinem Gedächtnis existiert kein Bild mehr von meiner Mama.
»Die Tür ist offen«, antwortet die Frau freundlich auf mein Klingeln. »Kommen Sie rein!«
Ihre Stimme klingt mir auf Anhieb nicht vertraut.
Der Hausflur ist dunkel, erst mit der Zeit nehmen meine Augen die Konturen wahr. An den Wänden sind Kleidungsstücke aufgehängt. Ich taste mich langsam zu einer ausgetretenen Holzstiege vor, auf die von oben Licht fällt. Am oberen Treppenabsatz wartet die Frau schon auf mich. In diesem Augenblick fällt mir ein, dass Mamas Nachname auf dem Briefumschlag zu finden sein muss.
»Ich suche eine Frau Weiß«, sage ich etwas beklommen nach einem verstohlenen Blick auf die Adresse der Absenderin.
»Katrin?«, kommt umgehend die Reaktion.
»Ja«, antworte ich zögernd, immer noch ein wenig ungläubig.
Da hat sie mich auch schon im Arm, so liebevoll und innig, wie es sich nur bei der eigenen Mutter anfühlt. »Ach, mein Kind, meine Katrin!«, murmelt sie.
Ich kann gar nichts sagen. Selig sauge ich ihren Geruch in mich auf, wie ein lange entbehrtes Elixier, so vertraut, so geborgen, so erlösend. Sie ist tatsächlich meine Mama. Es war keine Einbildung, die mich all die Jahre heimgesucht hat. Meine immer wieder schwankende Hoffnung hat mich nicht getrogen. Meine leibliche Mutter hat mich genauso vermisst wie ich sie. Tränen rinnen mir übers Gesicht. Ich wische sie verstohlen weg, schließlich will ich nicht wie ein heulendes Elend vor ihr stehen, nicht wie die kleine, zerbrechliche Katrin, der jede Rührung Wasser in die Augen treibt. Mama kann ihre Ergriffenheit ebenfalls nicht verbergen. In dieser Hinsicht sind wir offenbar seelenverwandt. Mein Puls geht schneller, bei ihr wird es kaum anders sein. Unser Doppelherz schlägt im Takt.
Vor ihrer Stubentür, im Schein des Oberlichts, finde ich endlich Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Ihre braunen Haare sind halblang und glatt wie bei mir,
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