Entrissen
aufgepasst und freche Nachbarsjungen in ihre Schranken verwiesen, wenn sie mich ärgern wollten. Aber auch er konnte nicht verhindern, dass die anderen Heimkinder sich bald von meinen Heulattacken genervt fühlten. Irgendwann riefen sie mir keine Gemeinheiten mehr nach, sie wandten sich einfach ab und überließen mich mir selbst. Das war noch schlimmer. Jetzt fühlte ich mich erst richtig verlassen.
Da war ich beinahe dankbar, als ich – nach meinem Empfinden war das nur wenige Tage später – nach dem Mittagessen in das Büro der Heimleiterin gerufen wurde. Ihr Zimmer befand sich gleich links neben dem Eingang und machte einen ausgesprochen vornehmen Eindruck. Nur das Konterfei des Generalsekretärs Erich Honecker an der Wand wirkte in der großbürgerlichen Einrichtung etwas aus der Zeit gefallen. Frau Heinze stand vor ihrem Schreibtisch und forderte mich auf, das ältere Ehepaar artig zu begrüßen, das in ihrem Büro schon auf mich zu warten schien. Irgendwie hatte ich sofort das unangenehme Gefühl, zu spät zu kommen. Ich erkannte an ihren Mienen, dass die Erwachsenen längst schon alles untereinander geklärt hatten. Ich wurde überhaupt nicht gefragt und schwieg daher verstockt. Auch die beiden Besucher, die einen eher biederen Eindruck erweckten, sagten kein Wort.
Dafür redete die Heimleiterin umso mehr, und die Frau, die ihr gegenüberstand, hörte überhaupt nicht mehr auf, heftig dazu zu nicken. »Pack deine Siebensachen«, belehrte Frau Heinze mich, »deine Zahnbürste, deine Kleidchen, deinen Schlafanzug, und dann gehst du mit deinen neuen Gasteltern nach Hause.«
So viel hatte ich in der kurzen Zeit meines Aufenthalts hier bereits erfahren: Wenn fremde Leute, oft Paare, das Heim aufsuchten, wurde meistens kurz darauf eines der Kinder in das Chefzimmer gerufen. Diesmal war also die Reihe an mir.
Reflexartig fragte ich zurück: »Kommt Mirko denn nicht mit?«
Die Pädagogin sprach beruhigend auf mich ein, während die fremde Frau wieder jedes Wort nickend bestätigte. »Der bleibt erst einmal hier. Geh du doch mal gucken, wie dir dein neues Zuhause gefällt. Dort hast du deine Ruhe, und es gibt keine Kinder, die dich ärgern. Wenn es dir nicht gefällt, kannst ja wiederkommen.«
Jetzt begannen bei mir doch die Alarmglocken zu läuten: Niemals zuvor hatte ich etwas ohne meinen großen Bruder unternommen. Es gab uns gar nicht anders als im Zweierpack. Mirko war neben meiner Mutter mein engster Vertrauter, mein Schutzengel. Außerdem: Wie sollte meine Mama mich denn jetzt noch finden, wenn sie ins Heim kam, um mich abzuholen? Dieser Umzug war mir alles andere als geheuer. Aber angeblich fand er ja erst einmal zur Probe statt. Alles, was hier vor sich ging, so redete ich mir ein, war ohnehin vorübergehend, ein Provisorium – bis unser Dreierbund, mit dem ich bis heute nur glückselige Kindheitsbilder verbinde, wieder zusammenfinden würde.
[home]
3 .
M eine neue Unterkunft schien alle finsteren Vorahnungen zu bestätigen. Das Ehepaar steuerte mit mir auf ein Schulgebäude zu und führte mich dort in seine Souterrainwohnung hinab. Die beiden waren alles andere als redselig, ein Gespräch kam daher nicht in Gang. Wegen der winterlichen Kälte waren Türen und Fenster verhängt, was die unterirdische Behausung noch dunkler machte, als sie es ohnehin schon war.
Dazu schlug mir aus diesem Kellerloch ein muffiger Gestank entgegen, der mir fast den Atem nahm. Hauptverursacher dieser Ausdünstungen waren offensichtlich zwei Pudelmischlinge, die erbärmlich aus dem Maul stanken. Auch wenn sie freudig erregt mit dem Schwanz wedelten, als sie mich sahen, ekelte ich mich vor diesen Tieren. Fauliger Mief beherrschte das gesamte Quartier, das aus einem Wohnraum mit Herd und einem Schlafzimmer bestand. Selbst die Decken und Kissen auf der Couch, die mir meine Pflegeeltern als Schlafstätte zuwiesen, verströmten einen atemraubenden Geruch. Die Liege diente sonst wohl als Hundeschlafplatz. Dass dies ihr Revier war, gaben mir die beiden Tiere auch sofort knurrend zu verstehen.
Der enge Raum war komplett mit Möbeln zugestellt, auf einem vorsintflutlichen Spültisch stapelte sich das Geschirr. Eine dunkelbraune Kommode, auf der ein Fernseher stand, schien vor Zeitungsstapeln schier überzuquellen. Um die stickige Wärme, die von dem Holz- und Kohlenherd kam, im Raum zu halten, war die Eingangstür mit einem schweren schwarzen Vorhang verdeckt, was das Quartier erst recht duster machte. Wenn man hereinkam,
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