Entrissen
November im Dunkeln allein auf der Straße gesehen worden sei. Was bedeutet das im Winter schon, überlegte ich, wenn es frühzeitig dunkelt?
Laut einer Zeugenaussage soll in unserer Wohnung außerdem große Unordnung geherrscht haben. Dagegen sprechen die Aktenvermerke von zwei unangemeldeten Hausbesuchern, laut deren alles »ordentlich« ausgesehen habe. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass die Behörden gezielt Belastungsmaterial gegen meine Mutter zusammengetragen hatten. Warum?
Ich durchstöberte mein Gedächtnis nach Erinnerungsfetzen, Bildfragmenten, die die Aussagen der Protokolle mit meiner damaligen Wahrnehmung in Einklang bringen konnten. Für die Unterstellung, wir seien vernachlässigt worden, fand ich keine Entsprechung. Selbst wenn meine Mutter arbeiten war, gab es immer jemanden aus der Familie, der sich unser liebevoll annahm. Als kleines Mädchen hegte ich keinen Zweifel, dass wir für Mama das Herzstück ihres Lebens waren.
Doch die Zivilkammer des Kreisgerichts Gera entschied am 30 . August 1972 knapp und kühl: »Der Verklagten wird das Sorgerecht […] entzogen.« Auf den Pfennig genau wurden die Unterhaltszahlungen für uns festgelegt. Zur Begründung hieß es, dass sie ihre Kinder und die Wohnung vernachlässigt habe. Durch unsere Fehltage in den staatlichen Betreuungseinrichtungen habe sie »die Kinder der gesellschaftlichen Einwirkung durch den Kindergarten und durch die Schule entzogen« und somit ihre »geistige Entwicklung gefährdet«. Die Verurteilte selbst war laut Verhandlungsprotokoll an jenem Tag nicht persönlich im Gerichtssaal anwesend.
Eine kleine Hintertür ließ das Gericht der Abwesenden jedoch offen. Der Verklagten wurde in Aussicht gestellt, nach ihrer Haftentlassung beweisen zu dürfen, ob sie »die richtigen Lehren aus dem Strafvollzug gezogen hat und die Gewähr für eine einwandfreie Erziehung ihrer Kinder bietet«. In diesem Fall, so die Urteilsbegründung weiter, könne ihr das Erziehungsrecht wieder übertragen werden.
Als ich das hörte, stiegen mir spontan Tränen der Wut und Empörung in die Augen. Wieso hatte die Justiz ihr die Kinder entzogen und sie gleichzeitig mit der Wiedererlangung des Sorgerechts im Falle ihrer »Besserung« gelockt? Sah das Gericht in mir und meinem Bruder Geiseln, um unsere Mutter zu Wohlverhalten zu zwingen? Warum war sie selbst von der Verkündung der Entscheidung ausgeschlossen, die derart gravierende Folgen für unsere Familie hatte?
Auch meiner Großmutter untersagte das Jugendamt jeglichen Kontakt zu mir. Endlich begann ich zu begreifen, warum mir die alte Frau damals bei unserem Abschied so gefühlskalt erschienen war. Die Behörden hatten meiner Oma auferlegt, sich fortan von mir fernzuhalten. Ein bürokratischer Akt hatte unsere Familienbande durchtrennt, und ihr war nicht einmal die Möglichkeit geblieben, mir die Hintergründe zu erklären. Sie war zum Stillschweigen genötigt worden. Die amtliche Verfügungsgewalt reichte bis zu der Auflage vom 28 . März 1974 , dass ich meinen eigenen Bruder Mirko nicht mehr sehen durfte, da er weiterhin mit meiner Oma in Verbindung stand. So wurde ich systematisch von meinen engsten Angehörigen isoliert, wie Mama seinerzeit schon angedeutet hatte. Ein Frösteln durchfuhr mich, als ich das zu hören bekam. Von welcher Paranoia muss ein Staat ergriffen sein, der mit solch konsequenter Härte Familien trennt?, überlegte ich.
So dünn der Gehalt der behördlichen Weisungen in meiner Adoptionsakte auch wirkte, sprach er dennoch vom Druck, der damals auf allen Beteiligten gelastet hatte. Allmählich begann ich zu erfassen, was Zwangsadoption, dieses fremde Wort aus Mamas Sprachgebrauch, wirklich hieß. Trotzdem verstand ich weiterhin nicht, wieso Mama sich all dem gebeugt hatte. Warum und wie hatte sie es fertiggebracht, sich von mir loszusagen?
Als wollte ich mich mit dieser Erkenntnis nicht abfinden, bat ich die Sachbearbeiterin, noch einmal Seite für Seite zurückzublättern. Wir mussten ein wichtiges Detail übersehen haben. Und in der Tat: Bei dieser Nachlese kam hinter dem Gerichtsformular ein weiterer Vermerk zum Vorschein, den wir bei der ersten Durchsicht überblättert hatten: Bereits am 19 . September 1972 beantragte die Jugendhilfe nach dem Sorgerechtsentzug die Übernahme der Vormundschaft für mich. Das Familiengericht gab diesem Antrag statt und mich damit zugleich frei für eine Adoption – über den Kopf der Mutter hinweg. Damit hatte ich das fehlende
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