Entrissen
Heimleiterin die einzigen Menschen seien, die mich so nahmen, wie ich war. Im Übrigen verdächtigte ich sämtliche Mitmenschen, die etwas behaupteten und das Gegenteil taten, pauschal als Lügner. Mit solchen Falschspielern wollte ich meine Freizeit nicht verschwenden. Aber Ruhe fand ich auch im Rückzug nicht.
Mein Schlupfwinkel auf der Treppe wurde für mich zum Daueraufenthaltsort. »Katrin
will
ja nicht mitspielen«, verkündete die blonde Erzieherin, bissig wie eh und je, stets vor den anderen Kindern und immer gerade so laut, dass ich es in meinem Versteck hören konnte. »Die brauchen wir erst gar nicht zu fragen!«
In der Tat kam bald niemand mehr auf die Idee, mich zum Mitmachen zu animieren, wenn die anderen ihre Turnsachen anzogen oder sich im Hof zum Versteckspiel versammelten. Höchstens in die Bastelstube wagte ich mich gelegentlich, denn dort konnte ich alleine vor mich hin werkeln. Mit Hingabe beschäftigte ich mich damit, meine Weihnachtsperlen auf dem Deckel einer Blechdose zu einem kleinen Kunstwerk zusammenzufügen.
Natürlich war ich immer neugierig, was meine Gefährten unternahmen, und hätte darauf gebrannt, in ihre gesellige Runde Aufnahme zu finden. Aber mein Misstrauen war am Ende immer größer. Es ist bezeichnend, dass mir heute kein Name, kein einziges Gesicht mehr zu den Kindern einfällt, mit denen ich über eineinhalb Jahre meines Lebens Tag für Tag verbracht habe. Meine Erinnerung daran ist wie getilgt. Ich hatte keine beste Freundin und vermochte mich mit keinem der Kinder über einen flüchtigen Kontakt hinaus anzufreunden.
Statt mein Los etwas zu lindern, schien die mir missgünstige Erzieherin gewillt, mir das Heimdasein noch zu erschweren. Wenn ich ihr Widerworte gab, war stets
ich
diejenige, die mit inneren Verletzungen die Arena verließ. In psychologischer Kriegsführung war sie nun mal eine Meisterin.
»Deine Mutter«, raunte sie mir einmal zu, »sitzt zu Recht im Gefängnis! Dort sind die bösen Menschen eingesperrt, und das ist sie auch.«
Schon hatte sie meinen wunden Punkt getroffen. Ich rief nicht mehr, ich schrie aus voller Seele: »Nein, du lügst! Meine Mama ist nicht böse!«
Meine innere Stimme konnte ich damit allerdings nicht übertönen. Der Keim des Zweifels war gesät. Wenn meine Mutter wirklich eingesperrt war, hatte das am Ende vielleicht etwas mit mir zu tun? Sie war ja keine Verbrecherin, das wusste ich. War ich etwa schuld, dass sie im Gefängnis saß? Welche Bosheiten hatte ich angerichtet? Ich fühlte Reue, grundlos.
Gera, Oktober 2007
Ich weiß nicht, wie oft ich schon achtlos an diesem Funktionsbau vorübergegangen bin. Zwei Jahre lang habe ich direkt im Nachbarhaus gewohnt, nachdem ich im Jahr 2003 mit meiner fünfzehnjährigen Tochter und meinem dreizehnjährigen Sohn nach Gera zurückgekehrt war. Die rauhverputzte graue Fassade hatte ich stets vor Augen, doch nie habe ich einen Gedanken daran verschwendet, was dahinter vor sich gehen mag. Zu sehr war ich damit beschäftigt, mein Leben in neue Bahnen zu lenken. Mit dem Umzug aus Berlin, wo ich mit meinem geschiedenen Mann, dem Vater der Kinder, auch mein früheres Dasein zurückließ, erhoffte ich mir einen Neubeginn in der vertrauten Heimatstadt. Doch gehandicapt durch meine angeborene Herzschwäche und vor kurzem erst an der Heilpraktikerprüfung gescheitert, habe ich in Gera bislang weder beruflich noch privat so recht Fuß gefasst. Hier, hinter der Fassade der Kinder- und Jugendhilfe in der Gagarinstraße 68 , hoffe ich jetzt, im Oktober 2007 , erstmals den Schlüssel zu meinem Schicksal und den daraus resultierenden Problemen zu finden. Die seit Jahrzehnten vor sich hin gilbenden Akten aus dem Register des Jugendamtes Gera könnten nämlich mein Lebensrätsel lösen.
Ich fröstle, mir ist beklommen zumute. Voller Zuversicht habe ich mich auf den Weg hierher gemacht, noch in der Straßenbahn habe ich keine Sekunde an meinem Vorhaben gezweifelt. Aber unmittelbar vor dem Portal bin ich drauf und dran, einfach umzukehren. Sollen sie doch weiterhin dort ruhen, die Geister der Vergangenheit. Nein, Katrin, ermahne ich mich, du musst diese Schwelle jetzt überwinden, viel zu lange hast du sie schon gemieden. Du musst dich endlich deiner Vorgeschichte stellen.
Ich gebe mir einen Ruck, erklimme die vier Stufen zur Loge des Pförtners und frage ihn nach der richtigen Anlaufstelle. Während ich linker Hand die Amtstreppe nach oben steige, spüre ich abwechselnd Verzagtheit und Mut. Meine
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