Entrissen
Anspannung steigt mit jeder Treppenstufe. Die Beine werden mir schwer, als müsste ich einen unendlich steilen Berg besteigen. Was ist, wenn die Dokumente eine ganz andere Geschichte erzählen, als ich sie mir in meiner Erinnerung zusammengereimt habe? Was könnte es für mich bedeuten, wenn durch die Akten ans Tageslicht käme, dass ich meiner Mama gar nicht unter Zwang entrissen worden bin? Dass sie mich damals am Ende selbst der staatlichen Kinderbetreuung ausgeliefert hat? Wie tragfähig ist das Konstrukt, das ich mir zurechtgezimmert habe? Darf ich mich auf mein Gefühl verlassen oder auf die bruchstückhaften Erklärungen, die ich im Lauf der Jahre erhalten habe?
Bevor ich anklopfe, zwinge ich mich zur Ruhe. Es kommt sowieso, wie es kommen muss. Ich beschließe, die Wahrheit so hinzunehmen, wie ich sie vorfinde. Frau Schwan, die Sachbearbeiterin der Jugendhilfe, empfängt mich gleich an der Tür. Mit ihrer gepflegten Erscheinung und ihrer ruhigen Art ist sie mir auf Anhieb sympathisch. Vor allem aber: Ihre Stimme am Telefon hat nicht getäuscht. Sie ist höchstens Mitte dreißig und war somit zu DDR -Zeiten noch nicht im Amt. Das beruhigt mich am meisten. Die größte Angst hatte ich davor, womöglich einer früheren Funktionsträgerin jenes Regimes gegenüberzustehen, das meinen Lebenslauf derart nachhaltig beeinflusst hat.
So fühle ich mich bestärkt, der Beamtin zu schildern, was mich bewegt: dass ich nach meiner eigenen Kindheit suche. Je deutlicher sie erkennt, wie sorgfältig ich mich vorbereitet habe, desto zugänglicher wirkt sie auf mich. Offenbar beginnt sie bereits, meine Schilderungen gegen die Aussagekraft der beiden Aktenkonvolute abzuwägen, die vor ihr auf dem Schreibtisch liegen. Im dickeren Ordner sind die Kinderschicksale von meinem Bruder und mir gebündelt, die dünnere Mappe enthält ausschließlich meinen Fall.
Ich bin nicht befugt, die holzhaltigen Papiere aus der Fertigung eines »volkseigenen Betriebs« ( VEB ) selbst durchzulesen oder gar Kopien zu erhalten. Datenschutz, Persönlichkeitsrechte … Vorschriften eben. »Kontrollierte Akteneinsicht«, nennt die Bürokratie diese Abschirmung der Opfer von ihrem eigenen Fall. So wird aus der Akteneinsicht eine Vorlesestunde. Während die Sachbearbeiterin die für mich statthaften Passagen aus den Unterlagen rezitiert, notiere ich so viele Einzelheiten wie nur möglich in das mitgebrachte Büchlein. Auch einen Thermosbecher mit Kaffee habe ich vorsorglich eingepackt, aber den habe ich vor Aufregung schon auf dem Weg hierher leer getrunken.
Ich vernehme die Adressen der Stationen meiner Kindheit, die Namen meiner Bezugspersonen, die unzähligen »sozialistischen Grüße«. Mit einem Mal, als würde sich eine verborgene Tür auftun, sehe ich alles wieder vor mir. Die Amtsformeln, mein Mädchenname und die dürren Daten meines Kinderdaseins wirken nun wie ein »Sesam öffne dich« auf mich.
Plötzlich habe ich sogar die mir missgünstige Erzieherin wieder bildscharf vor Augen, die ich erfolgreich aus meinem Bewusstsein getilgt hatte. Sie war eine sehr hübsche junge Frau, deren blondes Haar ihren Reiz noch unterstrich. Gegenüber den anderen Heimkindern verhielt sie sich zwar streng, aber nicht ungerecht. Mich dagegen hatte sie, so kam es mir jedenfalls vor, unentwegt auf dem Kieker.
»Jetzt weiß ich endlich«, sinniere ich vor mich hin, »warum ich eine so tief sitzende Abneigung gegen blonde Frauen hege.«
Ich denke in dem Moment gar nicht daran, dass ich meinem dunkelblonden Gegenüber mit dieser Bemerkung zu nahe treten könnte. Zu sehr beschäftigt mich der Zusammenhang, der mir gerade aufgegangen ist: Tatsächlich lösen Blondinen, besonders wenn sie gefärbte Haare haben und machtvolle Positionen bekleiden, bei mir einen unwillkürlichen Abwehrreflex aus. Dabei weiß ich nur zu gut, dass die Haarfarbe in keinem Zusammenhang mit dem Charakter steht und ich den blondhaarigen Frauen damit unrecht tue.
Während ich in der Amtsstube sitze, dämmert mir, woher dieser unsinnige Vorbehalt rühren könnte. Der Schmerz, den die Erzieherin mir damals zugefügt hat, sitzt offenbar so tief, dass Frauen mir suspekt geblieben sind, die ihr ähnlich erscheinen – selbst heute noch, obwohl ich ihr damaliges Alter inzwischen selbst überschritten haben dürfte.
Warum hat sie mir damals so zugesetzt? Hatte sie wirklich keine Vorstellung davon, was in einem kleinen Mädchen vor sich geht, das in nur wenigen Tagen alle Familienbindungen
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