Entrissen
verloren hat? Oder betrachtete sie getreu der offiziellen Propaganda meine Mutter als Verräterin und Feindin der Republik, die ihr fatales Erbe an ihre kleine Tochter übertragen hat? War ich in ihren Augen etwa schon eine Staatsverräterin im Kleinformat? Ich kann mich nicht erinnern, dass diese Frau jemals anders als abfällig über meine Mutter sprach, obwohl sie sie nie persönlich kennengelernt hat.
Ich muss die Sachbearbeiterin verwirrt angesehen haben, denn sie bedenkt mich mit einem fragenden Blick. Natürlich hat sie keine Antwort auf die Fragen, die aus den Tiefen meiner Kindheit in mein Bewusstsein aufsteigen. Und die Erzieherin, die all das wissen müsste, werde ich wohl niemals wiedersehen und sie daher auch nicht nach ihren Beweggründen fragen können.
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8 .
I nzwischen war es für mich ein geläufiges Ritual. Die Ferien zum Jahreswechsel, wie die Weihnachtspause auf DDR -Deutsch offiziell hieß, hatten 1973 gerade begonnen. Noch zwei Tage bis zum Fest der Liebe: für mich nichts weiter als die Aussicht, wieder einmal dem tristen Zeremoniell im Heim beizuwohnen. Dessen Krönung würde das Einheitsgeschenk für all jene Kinder sein, die keinen Familienanschluss hatten. Wie verheißungsvoll!
Daher kam mir in der Vorweihnachtszeit der Aufruf, mich wieder einmal im Büro der Heimleiterin einzufinden, gerade recht. Die Chance, meiner Verwahranstalt zu entkommen, musste ich einfach ergreifen. Es war meine letzte. Die Ermahnung meiner Oma, bei fortgesetztem Widerstreben auf Dauer unter staatlicher Aufsicht zu bleiben, hatte ich noch allzu deutlich im Ohr. Torschlusspanik verfolgte mich.
Im Büro der Heimleiterin wartete an diesem Morgen ein Ehepaar auf mich. Die Besucher, beide Anfang bis Mitte dreißig, sahen gut aus, sie wirkten auf den ersten Blick sympathisch und aufgeschlossen. Der Mann, Klaus, wie seine Frau ihn nannte, war groß, schlank, hatte schwarzes Haar und trug modische Kleidung. Spontan strich er mir mit der Hand über die Wange, was mich gleich für ihn einnahm, denn diese Geste war mir noch von meiner Mutter vertraut. Auch er schien von mir angetan.
Die Frau hatte ebenfalls eine sportliche Figur, dunkelblonde Haare und einen Pagenschnitt. Sie wirkte jugendlich und war auffallend elegant gekleidet. Dabei machte sie allerdings keinen aufgetakelten Eindruck, sie vertraute wohl auf ihre natürliche Ausstrahlung. Die sonst übliche Eignungsprüfung, die Fragen, die abschätzende Betrachtung, all das entfiel dieses Mal. Die Entscheidung für mich war offenkundig bereits gefallen.
»Na, Katrin«, sagte der Mann in aufmunterndem Tonfall zu mir, »kommste mit zu uns?«
Ich erkannte die Gunst der Stunde, die Chance auf ein glücklicheres Dasein sofort und nickte strahlend.
Frau Heinze ermahnte mich – mit unmissverständlichem Unterton: »Das ist unser letzter Versuch!« Um auch jeden Zweifel auszuräumen, dass es sich bei mir um einen besonders hoffnungslosen Fall handelte, fügte sie, an meine neue Mutti gewandt, hinzu: »Wenn jemand die Katrin zu greifen kriegt, dann bist du das, Christel!« Sie sagte »du« wie »Genossin«.
Die Hintergründe sollten mir erst später klarwerden: Beide Frauen kannten sich wohl aus der Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ( SED ). Als Lehrerin brachte meine künftige Ersatzmutti den fünften bis zehnten Klassen an der Polytechnischen Oberschule Bruno Kühn Russisch bei und war zudem ausgebildete Sportpädagogin. Allerdings hielt ihre bedeutsame Aufgabe als Parteisekretärin sie vom Unterricht weitgehend fern. In dieser Funktion vertrat sie die Interessen jener Massenorganisation, die nach eigenem Selbstverständnis der »Motor für die schrittweise Umformung« der Gesellschaft war und sich »immer im Recht« wähnte. Die SED war der Staat im Staate, sie lenkte, überwachte und siebte aus. Die Partei entschied über die grundlegenden Gesetze, über Bildungschancen, Berufswege, Aufstieg und Scheitern, Wohl und Wehe der Werktätigen und in äußerster Konsequenz sogar über Leben oder Tod.
Wer das rote Mitgliedsbuch mit dem Signet aus Hammer und Zirkel auf der Vorderseite besaß – und das waren in jenen Jahren bis zu drei Millionen Genossen –, durfte sich einer Elite zugehörig fühlen. Kaum ein Entscheidungsträger in Verwaltung, Wirtschaft oder Militär, von der Heimleiterin bis zum Chef des Kombinats, vermochte ohne den Segen der Partei an seine Position zu gelangen. Der SED -Mitgliedsausweis fungierte als eine Art
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