Entrissen
wichtiger war als mein Kummer, war es mir gerade recht, endlich meine Ruhe zu haben. Konnte ich denn nicht wenigstens zum Weinen ganz für mich alleine sein?
Genau in dem Moment erblickte ich durch die Geländerstreben die blonde Erzieherin und hörte ihren munteren Appell. »Kommt Kinder«, rief sie in falscher Fröhlichkeit in die versammelte Runde, »lasst uns lustig sein.
Wir
wenigstens wollen unseren Spaß haben.« Mehr nicht.
Mehr musste sie aber auch gar nicht sagen. Der Schlag hatte gesessen, zielsicher, er traf mich heftiger als jede Backpfeife. »Heulsuse, Heulsuse!«, flüsterte es, zischelte es, dröhnte es in meinem Schädel. Ging denn nun alles wieder von vorne los? Das gleiche Programm wie im letzten Jahr, vor meinem Intermezzo an der Ostsee? Die Stänkereien, das Bloßstellen, die Demütigungen?
In jenem Moment fasste ich einen Entschluss: Von jetzt an würde ich nie wieder weinen, mein ganzes Leben lang nicht. Ihr sollt mich nicht mehr schwach und leidend sehen, schwor ich mir. Ihr sollt keinen einzigen Anlass bekommen, mich zu schmähen und über mich herzuziehen. Ich trainiere mir meine Gefühle weg, dämme die Tränen. Sie sollen zurückfließen, in mich hinein. So bald werde ich niemandem mehr Einblick in mein Seelenleben gewähren, nahm ich mir vor. Alle logen sie mich an, mit ihrem geheuchelten Verständnis. Warum sollte ich dann aufrichtig sein und ihnen mein wahres Ich zeigen?
Meine Panik kehrte sich nach innen. Nach außen blieb ich verschlossen. Es kam mir vor, als müsste ich zu Salz trocknen, zu Stein erstarren, aber ich wollte mir um keinen Preis etwas anmerken lassen. In der Tat, es gelang mir. Ich stemmte mich hoch und fühlte mich sogleich wie ein anderer Mensch. Keine Heulsuse mehr, sondern eine kleine Kämpferin.
Mein Vorsatz sollte halten, lange Zeit sogar. Ich gewöhnte es mir tatsächlich ab, zu weinen. Sobald ich die Tränen aufsteigen spürte, schluckte ich sie hinunter. Ich schluckte alles in mich hinein, ließ nicht mehr zu, dass es aus mir herausbrach. Wenn mich doch mal die Emotionen zu packen drohten, dann achtete ich darauf, allein und unbeobachtet zu sein. Tränen kullerten höchstens im stillen Kämmerchen. Nur wenn die blanke Wut mich überkam, und das geschah besonders dann, wenn ich Unrecht empfand, konnte ich mich meistens nicht mehr beherrschen. Dann konnte es immer noch passieren, dass ich losheulen musste – und mich gleichzeitig vor mir selbst schämte.
Die Erfahrung von Angst und Verlust hatte aus dem aufgeschlossenen, zutraulichen Mädchen, das ich einmal war, eine introvertierte Einzelgängerin gemacht. Wenn Musik aus dem Radio tönte, hatte ich als kleines Mädchen wohl gleich zu tanzen angefangen. Manchmal soll ich sogar laut und falsch mitgekräht haben. Angeblich war ich früher sehr aufgeweckt und interessierte mich für alles, was mir ins Sichtfeld geriet. Ich war wohl eher munter und suchte zugleich stets die Nähe meiner Mutter. Ich muss ihr geradezu Löcher in den Bauch gefragt haben. Das klingt wie die Beschreibung eines anderen Wesens. Irgendwann muss sich das jedoch verflüchtigt haben. Im Kinderheim jedenfalls kümmerte es mich kaum noch, was um mich herum geschah.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich an jenem Tag zur Ruhe fand. Möglicherweise gaben sie mir auch Beruhigungsmittel. Viele Jahre später erfuhr ich, dass Medikamente, um verhaltensauffällige Kinder ruhigzustellen, durchaus zur Grundausstattung der Hausapotheke von Kinderheimen in der DDR gehörten.
Dafür ist mir der Moment, als ich wieder erwachte, sehr wohl noch gegenwärtig: Ich spürte kein einziges Gefühl mehr in mir drin. Als hätte ich über Nacht alle Emotionen verloren. Sobald mir jemand etwas Gutes tun wollte, sprang mein inneres Alarmsystem an. Jegliche Form von Zuneigung forderte sofort mein Misstrauen heraus. Lieb gemeinte Worte hielt ich grundsätzlich erst einmal für Lügen. Mein Selbstwertgefühl war nachhaltig beschädigt. Die Außenwelt, ob sie mir wohlgesinnt oder hinterhältig begegnete, war Feindesland. Ich war allein und musste mich behaupten. Ich war vom Selbstmitleid zum Angriff übergegangen.
Mehr denn je mied ich meine Mitbewohner. Aufgrund meiner Enttäuschung steigerte ich mich in die Vorstellung hinein, dass nur die Küchenfrauen unverstellt lieb zu mir waren. Sie strichen mir übers Haar, flüsterten mir aufmunternde Worte zu und schienen sie auch tatsächlich so zu meinen. Ich bildete mir damals ein, dass diese Frauen neben der
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