Entrissen
Gütesiegel, das ideologische Festigkeit und linientreue Zuverlässigkeit garantierte.
Als Lehrerin mit Parteiamt war die Bewerberin um meine Adoption somit geradezu prädestiniert. Wenn es
ihr
nicht gelingen sollte, mich aus meinem Schmollwinkel herauszuholen, meine zeitweilige Widerborstigkeit zu zähmen und die Tochter einer rebellischen Staatsgegnerin in die sozialistische Gemeinschaft zu integrieren, wem dann? Bald war erkennbar: Die Pädagogin wich keiner Herausforderung aus. Ihr beruflicher Ehrgeiz, ihr erzieherisches Pflichtgefühl waren erwacht. Nicht Sozialpädagogik war das Ziel, das die Partei für Adoptionen vorgab, man hatte anderes mit mir vor: Ich sollte einmal als Kader der Elite des sozialistischen Staates angehören. Wie ich viel später in einem Schriftstück las, verpflichteten sich meine neuen Eltern demnach, mich so zu erziehen, »wie es unser Staat von uns erwartet«.
Diese Zusammenhänge durchblickte ich in jenem Moment natürlich noch nicht. Wenn mir damals jemand eine Alternativlösung eröffnet hätte, vielleicht sogar die, meinen Bruder wiederzusehen, dann hätte ich mich wohl gesträubt, mit dem fremden Paar mitzugehen. Zu jener Zeit befand ich mich aber in einem Zustand, in dem ich vermutlich selbst einem Kameltreiber in die Wüste Gobi gefolgt wäre, wenn er mir nur einen Ausweg aus meinem tristen Kinderheimdasein versprochen hätte.
Also stimmte ich abermals bereitwillig zu, als die Direktorin mich mit einem Seitenblick auf das Ehepaar fragte: »Möchtest du mit den beiden mitgehen? Gefallen sie dir?«
Ich nickte. Ja, sie gefielen mir. Sie waren nett, aber nicht zu bestimmend. Sie schienen zu wissen, was sie wollten, und wirkten überzeugt von dem, was sie vorhatten. Es war spürbar nicht nur ein Auftrag der Partei, dem sie folgten. Sie wollten ein Kind, und sie wollten mich. Freudestrahlend verließ ich das Büro.
Wenn ich heute an jenen Moment zurückdenke, kommt es mir vor, als hätte ich damals auch eine willkommene Gelegenheit erblickt, es meiner leiblichen Mutter so richtig heimzuzahlen. Wenn sie Jahr um Tag einfach nicht kam, um mich aus dieser Anstalt herauszuholen, dann wollte ich hier auch nicht bis in alle Ewigkeit vergeblich auf sie warten. Das hatte sie nun davon.
Gerade einmal zehn Minuten blieben mir, um mein Heimdasein abzuschließen. Die wenigen Habseligkeiten, die ich besaß, landeten in meinem kleinen Kinderkoffer, die letzten Relikte aus einer verschwommenen Vorzeit. Die Treppe, stiller Winkel für meine Verzweiflung und meine Tränen, stieg ich diesmal mit erhobenem Haupt hinab. Hoffnungsfroh durfte ich Erwachsenenhände ergreifen, zur Rechten meinen neuen Vater, zur Linken meine neue Mutter. Für jeden ersichtlich, stand mir zur Seite, was die anderen Heimbewohner entbehren mussten: Eltern. Ich fühlte mich wieder komplett, eingefügt in die Dreisamkeit. So selig war ich selten gewesen.
Allein die blonde Erzieherin brachte es fertig, mir den Abgang zu vermiesen. »Denk dran«, zischte sie mir im Vorbeigehen zu, »wenn du wiederkommst, dann bleibste für immer hier!«
Die Fahrt im Trabant meiner neuen Gastfamilie dauerte nicht einmal eine Viertelstunde. Und doch war es für mich die Reise in eine andere Welt. Die Ankunft in meinem neuen Leben erschien mir wie ein unerwartetes und beinahe unwirkliches Weihnachtsgeschenk. Das Haus, das die Familie im Geraer Stadtteil Langenberg bewohnte, war geräumiger als jede Privatwohnung, die ich bis dahin betreten hatte. Mein künftiges Zuhause war idyllisch in einen Hang gebaut, der oberhalb der Siedlung von einem Wald begrenzt war. Die Doppelhaushälfte aus den dreißiger Jahren verfügte mit Keller und einem Geschoss unter dem roten Ziegeldach über insgesamt vier Etagen und – besonders erfreulich für Kinder – einen eigenen Garten sowie einen asphaltierten Hof. Hinter dem Haus auf dem Rasen, der von einem schneebedeckten Gemüsebeet, Obstbäumen und Sträuchern umsäumt war, stand ein Gestell zum Teppichklopfen, an das im Sommer eine Schaukel oder sogar eine Hängematte angebracht werden konnte. Viele Stunden sollte ich künftig dort verleben, so viel Freiraum hatte ich bis dahin noch nie gehabt.
Das neue Heim war nicht nur geräumig, man fühlte sich als Gast auch auf den ersten Blick willkommen. Besonders bedeutungsvoll für mich war aber die Entdeckung, dass in der Nachbarschaft ein Junge namens Heiko wohnte, der etwa in meinem Alter war. Zum Empfang begrüßte ich auch eine ältere Dame, die sich mir
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