Entrissen
aufzog und ein Gewitter drohte, verkrümelte ich mich rasch. Ich mochte keinen Hader zwischen meinen Pflegeeltern, die ich als Paar erleben wollte.
Ab Anfang März 1974 hatten sie, sicher auch dank ihrer Kontakte, für mich einen Kindergartenplatz gefunden. Ich gewöhnte mich schnell an den zwanzigminütigen Fußweg, den ich jeden Morgen an der Hand meiner Mutti zurücklegte. Mein Leben wurde noch ein Stück alltäglicher, normaler. Bald kam es mir vor, als ob ich schon immer mit dieser Frau durch das Wohngebiet gestapft wäre. Der neu errichtete Flachbau, Ziel unseres Morgenspaziergangs, strahlte ein Flair von Moderne und Zuversicht aus. Es war ein zweigeschossiges Gebäude, wie es in der DDR zu dieser Zeit vielerorts in einheitlichem Stil errichtet worden war, und die Kindergartenräume wirkten hell und einladend.
Nach dem Frühstück, das jeder von daheim mitbrachte, durften wir spielen, Bilder malen oder turnen. Das Mittagessen nahmen wir Kinder gemeinsam mit den Erzieherinnen ein, eine Vorzugsbehandlung gab es für sie nicht. Auch unter den Kleinen herrschte nicht der Wettkampf, wie ich ihn im Heim erlebt hatte. Jeder hatte dort darauf gelauert, ja mindestens ebenso viel auf den Teller zu bekommen wie der Nebenmann. Wer zu kurz kam, hatte eben das Nachsehen gehabt. Am heftigsten war die Rivalität um die Gunst der Erzieherinnen gewesen. Wer keinen Draht zu ihnen gefunden hatte, war Außenseiter geblieben. Hier dagegen hatte jedes Kind seine Mutter. Da war es nicht von entscheidender Bedeutung, wie sehr uns die Pädagoginnen mochten. Und wieso sollten wir uns um Mahlzeiten balgen, wenn jeder zu Hause mehr als genug bekam?
Der unangenehmste Moment im Tagesablauf war für mich die gemeinsame Mittagsruhe im Schlafraum, da sie mich zu sehr an das Kinderheim erinnerte. Ich freute mich jedes Mal, wenn wir uns nach dem strikten Ruhegebot wieder regen durften. Nach der Vesper am Nachmittag, die ebenfalls jeder selbst mitbrachte, wartete ich ungeduldig auf die Abholstunde. Nicht, weil ich mich nicht wohl gefühlt hätte. Mir bereitete es im Gegenteil viel mehr Freude als früher, mit den anderen Kindern zusammenzustecken. Nicht nur, weil ich mich tagtäglich freute, das vertraute Gesicht meiner Ersatzmutter wiederzusehen. Es war vielmehr das sichere Gefühl, dass Mutti
überhaupt
erschien, zuverlässig, regelmäßig und pünktlich. Entscheidend war für mich, nicht wieder sitzengelassen zu werden.
In mir lauerte weiterhin die Befürchtung, hintergangen und angeschwindelt zu werden, und selbst Nebensächlichkeiten bekamen für mich eine übergroße Bedeutung. Beispielsweise beruhigte es mich, dass ich von zu Hause eine rote Kunstledertasche für mein Pausenbrot mitbekam. Dies sah ich als Gewähr dafür an, dass meine Eltern mit meiner Rückkehr rechneten. Warum sonst hätten sie mir das gute Stück mitgegeben?
Meine ständige Anspannung ließ mich in den Augen der anderen Kinder vermutlich etwas unzugänglich erscheinen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, jemals ungezwungen und richtig befreit herumgetobt zu sein, obwohl das eigentlich meinem Naturell entsprach. Wenn ich heute Fotos von mir aus jener Zeit betrachte, dann sehe ich ein burschikos auftretendes Mädchen mit Bubikopf und stets ernstem Gesichtsausdruck. Ich denke, dass ich es meinen Mitmenschen damals nicht leicht gemacht habe, mich anzunehmen.
Dabei fühlte ich mich durchaus gut aufgenommen in diesem Kindergarten. Die Altersgefährten kamen von sich aus auf mich zu, und ich war von Anfang an in die Gemeinschaft integriert. Wir sangen und bastelten viel. Nie musste ich mir üble Nachreden anhören, niemand verunglimpfte mich als Heimkind. So wuchs mit der Zeit mein Selbstbewusstsein. »Das ist meine Mutti«, erklärte ich den Spielkameradinnen frank und frei, »aber nicht meine richtige.«
An ihrer Hand ging ich beruhigt nach Hause, wo Oma Erna und bald auch Vati sich zu uns an den Kaffeetisch gesellten. Solange es noch hell war, streunte ich meist mit der Oma durch das Gehölz oberhalb des Hauses, um Blumen oder Pilze zu sammeln. Sie beschrieb mir die Pflanzen in unserer Umgebung und erklärte mir alles ausführlich. Allein hätte ich in dem Wäldchen Angst gehabt, doch mit ihr wurde »Ich sehe was, was du nicht siehst« bald mein Lieblingsspiel.
Am Abend vertrieben mir Omas Gedichte und Wortspiele die Langeweile. Wenn ich im Bett lag, begleiteten mich ihre Gutenachtgeschichten durch die offene Tür in den Schlaf. Wenn es kalt war, steckte sie mir
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