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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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Ihren Beruf verfehlt!«
    Ich war sprachlos. So etwas hatte es in meiner Erinnerung noch nie gegeben. Mein neuer Vater hatte es wirklich gewagt, die Gouvernante in ihre Schranken zu verweisen. Ihre Erziehungsgewalt war keineswegs unumschränkt. Die missgünstige Frau, die mich oft und gerne schikaniert hatte, stand nun selbst gescholten wie ein Heimkind da. Zum ersten Mal seit dem Verschwinden meines Bruders machte sich jemand für
mich
stark. Die Aussichten standen gut, dass mein neuer Vater mir auch künftig zur Seite stehen würde – wenn ich nur etwas Geduld aufbrachte.
    In der Tat fügte sich die Betreuerin und machte sich auf die Suche nach dem längst vom Schrank geräumten Bären, bis er in einer Kiste zum Vorschein kam. Mit ausdrucksloser Miene drückte sie ihn mir in die Hand. Ich kam mir wie eine Siegerin vor. Voller Stolz trug ich mein Knuddeltier aus dem Zimmer und verschmerzte sogar, dass meinem Bärchen inzwischen das hellblaue Lätzchen fehlte. Mein Vertrauen in die Welt kehrte langsam zurück.
    Als wir in Langenberg ankamen, wartete der Nachbarsjunge Heiko auf mich. Endlich jemand, der mich ein wenig vermisst hatte und der sich, genau wie ich, auf unseren gemeinsamen Zeitvertreib freute. Jetzt, da ich keine böswilligen Kommentare mehr zu befürchten hatte, erwachte meine Lust zu spielen sofort wieder. Auch die anderen Nachbarn und Hausbewohner begrüßten mich so liebenswürdig, als wäre ich nie fort gewesen.
    Nur meine ohnehin angegriffene Gesundheit schien den wechselhaften Ereignissen nicht ganz gewachsen zu sein. Kaum hatte ich von neuem meinen Schlafplatz im Vorzimmer von Oma Erna bezogen, wurde ich ernsthaft krank. Es begann mit leichtem Frösteln, dann wurde mir schummrig, schließlich glühte mein ganzer Leib vor Fieber, ich hustete, röchelte, der Brustkorb tat mir weh. Ich war so schlapp, dass ich nicht mehr selbst laufen konnte. Ob es die Erschöpfung nach der vollkommenen Umstellung war oder schlicht eine Erkältung nach ausgiebigem Spiel im Schnee – keine Ahnung. Jedenfalls befand ich mich in einem erbärmlichen Zustand. Meine besorgten Pflegeeltern trugen mich in das Familiengefährt, um mich untersuchen zu lassen. Diesmal ließ ich sie gewähren, ich war ohnehin viel zu geschwächt, um mich zu wehren.
    Doch als wir uns an diesem kühlen Februartag schon wieder einer Villa nahe der Innenstadt näherten, regten sich sämtliche verbliebenen Lebensgeister in mir. Es war wie ein Reflex, auf den ich selbst nur wenig Einfluss hatte: Als meine Mutter mich über die schwere, an das Kinderheim erinnernde Holztreppe hochschleppte, schrie ich los, so laut es mir mit meinem schwachen Stimmchen noch möglich war. Ich hatte fürchterliche Angst, dass ich die neuen Eltern, zu denen ich vorsichtig Vertrauen geknüpft hatte, schon wieder verlieren würde. Dass sie mich im Stich lassen könnten.
    Doch der Gründerzeitbau erwies sich als Kinderklinik, und wir hatten sie angesteuert, weil am Wochenende die Arztpraxen geschlossen waren. Diesmal ließen meine Betreuer mich nicht allein. Sie hatten wohl erkannt, wie schnell das Gefühl, verlassen zu werden, bei mir Panik auslösen konnte. Obwohl die diensthabende Ärztin mich offenbar in der Klinik behalten wollte – immerhin hatte ich eine Lungenentzündung –, gelang es meinen Eltern, die Medizinerin irgendwie davon zu überzeugen, es bei einer ambulanten Behandlung zu belassen. Sie wussten, dass in dieser Lage meiner angeschlagenen Gesundheit nichts mehr schaden würde als der Eindruck, allein in einer fremden Umgebung zurückbleiben zu müssen.
    Tatsächlich ließ ich mich tapfer von der Ärztin mit der Nadel in den Po stechen, da ich zur Belohnung anschließend wieder mit nach Hause durfte. War ich zuvor die Treppe zum Behandlungszimmer mehr hochgeschleift worden als hochgestiegen, konnte ich plötzlich wieder richtig rasch laufen. Ich fühlte mich schlagartig genesen.
    Im Rückblick vermute ich, dass dies weniger der Injektion zu verdanken war als vielmehr der Aussicht, in meiner eben erst gewonnenen Familie zu bleiben. Für mich war es eine geradezu existenzielle Erfahrung, dass Mutti und Vati mich nicht dieser Klinik ausgeliefert hatten. Ich wusste jetzt, dass ich ihnen nicht gleichgültig war und sie mich nicht gleich hängen ließen. Mit dieser Geste hatten sie mich als Tochter zur Probe gewonnen.
    Sie wurden diesem Vertrauensvorschuss auch durchaus gerecht – zunächst jedenfalls: Wieder zurück im Haus, wurde ich verwöhnt wie seit

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