Entrissen
ihre alte Messingwärmflasche unter die Daunendecke. Sie blieb meine Hauptbezugsperson. Mutti hatte dagegen kaum Zeit für mich. Ich sehe sie in meiner Erinnerung vorwiegend über Bücher und Hefte gebeugt, wie sie in ihre bunten Kladden Notizen einträgt und dabei nicht gestört werden will. Wenn sie sich mal Zeit für mich nahm, war das eine Ausnahme, die ich sehr genoss.
Das Familienbild unterschied sich in jener Zeit sowieso von der Realität in anderen Ländern wie etwa der Bundesrepublik. Die nicht berufstätige Hausfrau, an deren Schürze sich die Kleinen klammern konnten, war in der DDR eher die Ausnahme. Die meisten Mütter, die ich kannte, gehörten zur großen Schar der Werktätigen. Dieses Rollenverständnis bekamen wir schon im Kindergarten vermittelt. »Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus«, sangen wir gern. »Ich binde eine Schürze um und feg die Stube aus.« Wie dieses arme Mädchen den lieben langen Tag, mutterlos und auf sich gestellt, den Haushalt versehen sollte, blieb allerdings das Geheimnis des Liedtexters.
Die Wirklichkeit sah jedenfalls anders aus: Öffentliche Einrichtungen übernahmen einen nicht unwesentlichen Teil der Erziehungsaufgaben. Aber unser Kindergarten war keine Kaderschmiede. Wir wurden weder mit staatstragenden Ansprachen noch mit ideologieschwangeren Kampfliedern traktiert. Wir mussten auch nicht Krieg spielen oder zum Appell antreten. Wir wuchsen in einen Staat hinein, der für uns normal und selbstverständlich war und zu dem es auch keine Alternative gab. Es stand einfach außer Frage, dass nur diese Gesellschaftsform existierte. Die Partei und ihre vielen Träger, der Katechismus des Sozialismus, die Freunde und Feinde, all das lag uns Kindern noch fern. Aber als das Wesen des Staates für uns im Laufe der Jahre Konturen annahm, da gehörte es zum öffentlichen Leben wie das Inventar zur Wohnung. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dem abstrakten Staat eine Verantwortung für mein Schicksal zuzuschreiben oder ihm gar das Verschwinden meiner Mutter anzulasten. Doch genau so war es.
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10 .
D ie kurze, noch verbleibende Vorschulzeit in der ersten Hälfte des Jahres 1974 verbrachte ich kaum im Kindergarten. Häufig musste ich zu Hause bleiben – in meinem Bett. Wie schon seit frühen Kindheitstagen, löste eine Krankheit die andere ab: Bronchitis, Grippe, Husten, Fieber. Ich war in dieser Zeit häufiger krank als gesund. Noch wusste ich nicht, dass meine leibliche Mutter mir auch ein anfälliges Herz vererbt hatte. Jedenfalls war es ein Segen, dass sich meine neue Großmutter mit großer Zuwendung um mich kümmerte.
Meine Mutti kam in der Regel erst mittags, nach dem Unterricht. Damit war ihr Arbeitstag allerdings noch nicht beendet. Zu Hause verbrachte sie viele Stunden am Schreibtisch, um den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten. Zeitaufwendig war auch ihre Funktion als Parteisekretärin der Schule. Erst viel später erfuhr ich, dass zu ihren Aufgaben auch gehörte, Berichte über das Verhalten und die Leistungen der Schüler zu verfassen, die sicher nicht ohne Einfluss auf deren weiteren Werdegang blieben. Hinzu kamen fortwährend Versammlungen, Besprechungen und öffentliche Veranstaltungen, die meine Mutti in Beschlag nahmen. Vati beklagte sich immer mal wieder, dass seine Frau wegen der »Scheißparteiarbeit« überhaupt keine Freizeit mehr habe.
Dabei legte Mutti größten Wert darauf, dass sie auch als Hausfrau den Anforderungen gerecht wurde. In unserem Heim führte ohne Zweifel
sie
die Regie, und es war ein strenges Kommando. Peinlich genau war sie darauf bedacht, dass in ihrem Haushalt Ordnung herrschte. Und dabei sollte ich als Helferin fungieren, sobald ich wieder genesen war.
In den ersten Jahren machte mir das großen Spaß. Ich war sogar stolz, dass Mutti mir eigene Aufgaben übertrug und mir zutraute, ihr zur Hand zu gehen. Gemeinsam mit ihr putzte und räumte ich bereitwillig auf. Auch in dieser Disziplin blieb sie ganz Lehrerin und unterrichtete mich, wie ich fegen, aufräumen und abtrocknen sollte. Anfangs erledigten wir die Hausarbeit noch Hand in Hand, und ich fühlte mich angenommen und aufgewertet.
Die ersten Schneeglöckchen und Krokusse streckten in unserem Vorgarten schon vorsichtig ihre grünen Spitzen aus der Erde. Eines Nachmittags ließ Mutti ihren Schreibkram liegen, packte mich in meinen warmen Mantel und nahm mich an der Hand, um mich zu ihrem Besuch bei einer befreundeten Familie mitzunehmen.
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