Entrissen
ich mich jemals wieder so wohltuend von ihnen umhegt wie damals im Juli 1974 .
Schon am Tag vor unserer Abreise falteten wir mit vereinten Kräften in unserer Hofeinfahrt das hochmoderne Klappfix-Zelt der Familie auseinander. Wer sich auf die Montage dieses Patents verstand, konnte in Minutenschnelle aus einem halbhohen Autoanhänger eine raffinierte Campingbehausung zaubern. Bei uns dauerte das etwas länger. Vor dem Aufbruch musste noch einmal sorgfältig geprüft werden, ob auch jedes Einzelteil unseres mobilen Obdachs intakt und vorhanden war. Onkel Karl, der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnende Bruder meines Vatis, und dessen Frau packten beim Aufbau mit an. Schließlich sollte das Zelt beiden Familien im Wechsel je drei Wochen als Urlaubsquartier dienen. Meine Hilfstätigkeiten waren in dieser Testphase wohl eher von begrenztem Nutzen. Daher sprang ich nur aufgeregt um die Erwachsenen herum, die die Tücken der Technik verwünschten, bis unser fahrbares Zuhause schließlich zur allgemeinen Zufriedenheit stand und wieder verstaut werden konnte.
Am nächsten Morgen hatte ich die ganze Rückbank unseres Familientrabbis für mich und richtete sie mir mit Decken, Kissen und Teddy Bruno gemütlich ein. So ließ sich die rund zweihundertzwanzig Kilometer lange Strecke bis nach Brandenburg leidlich ertragen. Wir waren nicht die Einzigen, die an diesem Tag in die Ferien fuhren, und Staus im Reiseverkehr waren kein kapitalistisches Privileg.
Auf dem Zeltplatz, direkt am Ufer des Schwielowsees, fand sich bald auch Onkel Karl ein. Er war uns auf dem Hinweg extra gefolgt, um beim Aufbau des Zeltes mitzuhelfen. Außerdem brachte er im Anhänger seines dunkelroten Mittelklassewagens der russischen Marke Moskwitsch ein kleines Segelboot mit, das sich die beiden Familien ebenfalls teilten. Nachdem unser Quartier für die nächsten drei Wochen errichtet war, fuhr der Onkel zurück nach Hause, um zum Ende unserer Sommerfrische mit seiner Familie wiederzukehren.
So spartanisch sich unser Aufenthalt in den dünnen Zeltwänden, mit Campingkocher, Klappstühlen und Wasser aus dem Plastekanister auch gestaltet haben mag: Ich fühlte mich wie im Paradies. Alles war neu für mich. Noch nie hatte ich so viel Zeit in der freien Natur verbracht. Auf ausgedehnten Spaziergängen streifte ich mit meinen Eltern durch die märkische Landschaft. Beinahe jede Pflanze kannten sie beim Namen und stillten damit meine Lernbegier. Gemeinsam genossen wir das seltene Privileg, unbegrenzt Zeit zur Verfügung zu haben.
Wenn wir über Stunden Kniffel oder »Mensch ärgere dich nicht« spielten, wirkte auch Mutti ungewöhnlich entspannt. Ich fühlte mich sehr wohl in diesem Familienleben, und allmählich verdrängte Zufriedenheit das tief sitzende Misstrauen in mir. Ich freute mich auf die Schule und wähnte das Heimdasein weit hinter mir. Ich wollte an diese schwierige Lebensphase nicht mehr zurückdenken und hatte auch keinen Anlass dazu.
Dieses Mal hatte ich keine Scheu, mich wenigstens bis zur Brust in das trübe Wasser des Schwielowsees, der von der Havel gespeist wird, vorzuwagen, hasste es aber nach wie vor, mit kaltem Wasser bespritzt zu werden.
Am letzten Urlaubswochenende trafen dann Onkel Karl und Tante Marianne mit ihrem Sohn Michael ein, um uns abzulösen. Zur Begrüßung lud der Onkel meinen Vater und uns Kinder ein. »Kommt, lasst uns gleich mal die Segelsaison eröffnen!«
Ganz wohl war mir nicht bei dem Gedanken, schließlich hatte ich immer noch einen Heidenrespekt vor tiefem Wasser, denn ich konnte nicht schwimmen. Doch die Erwachsenen streiften mir kurzerhand Schwimmflügel über die dünnen Ärmchen und beruhigten mich mit den Worten, dass sie doch bei mir seien. Meine Angst verscheuchten sie damit nicht. Ich vermochte es einfach nicht zu genießen, als wir immer weiter vom Ufer entfernt über die Seeplatte glitten. Die Männer zogen das Segel auf, und dank einer frischen Brise gewann das Boot immer mehr an Fahrt. Mir ging das alles zu schnell, und ich fühlte mich eher wie ein begossener Pudel, da die Gischt immer wieder über den Bootsrand klatschte. Ich hatte Angst und wollte nur noch zurück. Die Beschwichtigungen der Segelcrew beruhigten mich wenig.
Ausgerechnet als die Erwachsenen ein Einsehen hatten und wieder gen Ufer umdrehen wollten, passierte es. Das zu forsche Wendemanöver brachte unser Boot aus dem Lot. Die Jolle legte sich tief in die Kurve, kippte und kenterte, und ich fand mich unter Wasser wieder.
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