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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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langem nicht mehr. Alle Besucher meines Krankenlagers behandelten mich herzlich und mit großer Fürsorge. Der Bruder meines neuen Vaters, der ein paar Häuser weiter wohnte, kam mit Frau und Sohn eigens vorbei, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Stundenlang saß auch der Nachbarsjunge bei mir im Zimmer, und wenn ich nicht zu schwach war, spielte ich mit ihm Mühle oder Dame auf der Bettdecke. »Geht’s dir besser?«, oder: »Magst du noch irgendetwas?«, wurde ich immer wieder gefragt und bekam auch prompt meine Wünsche erfüllt. Mehrmals am Tag durfte ich leckere Hühnersuppe schlürfen, und meine Pflegemutter las mir aus Märchenbüchern vor. Ich war allein deshalb selig, weil sich jemand ernsthaft nach meinem Befinden erkundigte. Konnte ich trotz Müdigkeit nicht einschlafen, legte die Oma sich neben mich. Ich hatte in dieser Familie so etwas wie ein Zuhause gefunden.
    Nicht nur das: Kaum war ich wieder gesund, nahmen meine Eltern mich auf eine Urlaubsreise mit. Gleich zu Beginn der Winterferien ging es zum Skifahren ins Erzgebirge. Abgesehen von dem denkwürdigen Ausflug an die Ostsee mit Frau Dr. Denzer, war ich noch nie in Urlaub gewesen. Und dieses Mal sogar mit dem Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen, um den sich alles drehte.
    Oberwiesenthal, die höchstgelegene Stadt Deutschlands am Fuße des Fichtelbergs, war einer der beliebtesten Wintersportorte der DDR . Trotz der Tatsache, dass nur ausgewählten, durch Einkommen oder Arbeitsleistung privilegierten Staatsbürgern solche Ausflüge vergönnt waren, herrschte beträchtlicher Rummel auf der Piste. Auf derart schmalen, rutschigen Brettern zu stehen war für mich eine völlig neue Erfahrung. Dennoch hatte ich keine Angst, weil mein Vati mich, fest zwischen seine Skier geklemmt, den Hang hinunterlotste. Von ihm umfangen, fühlte ich mich sicher, erfuhr buchstäblich väterlichen Halt, was ich bis dahin nicht kannte. Während dieser Winterfreizeit hing ich meistens an ihm, und Mutti stand daneben.
    Vater Klaus wirkte auf mich unternehmungslustig und verlässlich zugleich. Langsam wurde mir klar, dass er seinen Bewegungsdrang zu Hause meistens zügeln musste, weil seine Frau das Kommando führte. Er war alles andere als redselig, aber wenn er mal etwas sagte, dann klang es stets sehr überlegt. Mit seinem Werdegang verkörperte er geradezu idealtypisch den Vorzeigewerktätigen im Arbeiter- und Bauernstaat. Klaus stammte aus einer Arbeiterfamilie in Bad Köstritz, von klein auf hatte er auf dem Bauernhof mit anpacken müssen, den seine Eltern nebenbei bewirtschafteten. Seinen Wehrdienst leistete er bei den Grenztruppen ab (und hatte das Glück, nie dem Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze Folge leisten zu müssen). Als gelernter Maurer ging er einer Tätigkeit nach, der in der DDR , gerade in der Hochphase des Städtebaus während der siebziger Jahre, große Bedeutung zugemessen wurde.
    Er war praktisch veranlagt, kein Intellektueller und dennoch auf seine Weise intelligent. Mit seinem athletischen Körper, den kantigen Gesichtszügen und den kurzen schwarzen Haaren zog er wohl so manchen weiblichen Blick auf sich, aber er beließ es dabei und blieb stets zurückhaltend. Wenn er mal ausging, dann nur in Begleitung seiner Gattin. Erst nach ein paar Gläsern Bier gelang es ihm, lockerer zu werden, zu scherzen und ein paar launige Worte an die anwesende Damenwelt zu richten. Seine Ehefrau beäugte diese seltenen Anwandlungen von Geselligkeit durchaus misstrauisch.
    Körperkontakt und Halt suchte ich, außer bei Oma Erna, daher eher bei ihm als bei meiner neuen Mutti. Wenn ich in der Anfangsphase am Sonntagmorgen, dem einzigen Tag, an dem wir ausschlafen konnten, gelegentlich im Elternbett unter die Decke kroch, schmiegte ich mich dort für gewöhnlich an den Vater, während Mutti meist aufstand, um das Frühstück zuzubereiten. Ich genoss es, wenn er den Arm schützend um mich legte und mir meine notorisch kalten Füße wärmte. Vati ließ Nähe zu, bedrängte mich aber nicht. Zwischen meinen Eltern dagegen sah ich nie einen Austausch von innig empfundenen Zärtlichkeiten. Sie schmusten nicht miteinander, hielten sich nicht eng umschlungen und küssten sich nur förmlich zur Begrüßung. Mir erschien das nicht ungewöhnlich, da ich zärtlichen Umgang ohnehin kaum kannte. Aber Streit zwischen den Eltern gab es auch nicht, jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit. Ihre Meinungsverschiedenheiten trugen sie diskret aus. Wenn ich spürte, dass dicke Luft

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