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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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furchteinflößendes Gerät in der Hand, dass ich vor Schreck die Luft anhielt. Diese Äthermaske war für mich eine ernsthafte Bedrohung. Ich hatte keine Ahnung, was sie zu bedeuten hatte, und wähnte mich in diesem Moment nicht mehr auf dem Patientensessel, sondern auf einem Hinrichtungsstuhl. Sollte mir jetzt endgültig der Garaus gemacht werden?
    Widerstandslos wollte ich das nicht über mich ergehen lassen. Ich schrie, so laut ich konnte, strampelte mit den Beinen und schlug mit den Armen um mich. Es brauchte nach meiner Erinnerung fünf erwachsene Menschen, um mich auf dem Sitz zu fixieren. Jemand umklammerte meine Beine, zwei andere hielten meine Arme fest, eine Krankenschwester stemmte sich auf meinen Brustkorb, irgendjemand zog mir den Kopf nach hinten. Ich war wie gelähmt, durch die Zwangsmaßnahmen – und vor Schreck. Die Bändiger kamen mir wie Verschwörer vor, die mir übel mitspielen, mich womöglich mit ihrem unheimlichen Gerät ersticken wollten.
    Viele Kinder ängstigen sich, wenn die Sprechstundenhilfe beim Arzt die Spritze aufzieht oder der Zahnarzt den Bohrer zückt. Normalerweise gibt es dann eine tröstende Hand, die einen hält und streichelt, man hört eine beruhigende Stimme, die einem sagt, dass alles gut wird. Diese Geborgenheit kannte ich nicht. Daher musste mir jede kommentarlose Handlung, deren Folgen ich nicht abschätzen konnte, wie eine gefährliche Falle erscheinen.
    Als ich wieder aufwachte, freute ich mich trotz der heftigen Nasenschmerzen, alles heil überstanden zu haben. Richtig froh war ich, meine künftigen Pflegeeltern wenige Tage später an meinem Krankenbett vorzufinden.
    »Bald kommst du wieder heim zu uns«, versprachen sie aufrichtig. Dieses Mal glaubte ich ihnen, denn durch ihren Besuch in der Klinik hatten sie bewiesen, dass ich ihnen nicht gleichgültig war.
    Tatsächlich hielten meine neuen Eltern Wort. Ich wartete nicht vergeblich. Am ersten Tag der Winterferien, im Februar 1974 , war ich mit einigen anderen Kindern in unserem Gruppenraum damit beschäftigt, die Perlenkugeln aus dem Weihnachtspäckchen zu einer Kette zusammenzufädeln, als es an der Pforte klingelte. Kurz darauf steckte Frau Heinze den Kopf in das Zimmer und meinte auffordernd zu mir: »Schau mal, wer da gekommen ist!«
    Ich kannte die Antwort schon, denn seit Tagen dachte ich an nichts anderes. Zutiefst erleichtert rannte ich in den Vorraum, direkt in die Arme meiner neuen Eltern. Eine solche Anziehungskraft hatte ich seit dem Abschied von meiner Mama nicht mehr empfunden. Zu diesen Fremden, die ihr Wort hielten, entwickelte ich plötzlich so etwas wie Zuneigung. Nachdem ich so lange hin- und hergerissen war, verspürte ich das Bedürfnis, endlich irgendwo hinzugehören.
    »Willst du mit ihnen mitgehen?«
    Die Frage der Heimleiterin war für mich eher rhetorisch. Natürlich wollte ich hier raus, endlich im vierten Anlauf den Sprung in die Außenwelt schaffen. So gern ich sonst die Pflichtaufgaben vertrödelte, so schnell packte ich nun meine Habe in den Kinderkoffer. Übermütig, so dass es durch die ganze Eingangshalle tönte, verkündete ich: »Ich gehe jetzt – und komm nie wieder!« Eine kühne Prophezeiung, die ich selbst nur zu gerne glauben wollte.
    Die anderen Kinder schienen bereits einer Vergangenheit anzugehören, der ich gerade in rasantem Tempo entwuchs. Binnen Minuten fühlte ich mich nicht mehr als Heimkind, sondern als Herzstück einer eigenen Familie.
    Wir waren schon über die Türschwelle, da fragte Klaus, mein Vater in spe: »Hast du auch wirklich nichts vergessen?« Ich verneinte, aber er hakte nach. »Wo hast du denn den Teddybären gelassen, den wir dir geschenkt haben?«
    O Gott, den hatte ich in der Aufregung ja ganz vergessen! Ich erzählte ihm rasch, was vorgefallen war.
    Da erwachte in dem ruhigen, ausgeglichenen Mann der Gerechtigkeitssinn. Er ging noch mal zurück und fuhr in scharfem Ton die blonde Erzieherin an: »Was hat das denn zu bedeuten? Das ist Katrins
persönliches
Weihnachtsgeschenk«, gab er ihr zu verstehen. »Den Bären haben wir
ihr
geschenkt, er gehört niemandem sonst!«
    Unsicher begann sie zu erklären. »Wissen Sie, wir haben sehr viele Kinder hier. Da müssen wir schon darauf achten, dass niemand neidisch oder eifersüchtig wird …«
    Sehr bestimmt erwiderte er: »Als ausgebildete Pädagogin werden Sie den Kleinen das ja wohl erklären können.« Die für ihn ungewöhnlich lange Ansage beschloss er mit den Worten: »Ich glaube, Sie haben

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