Entrissen
Als sie mir die Fondtür unseres Trabants öffnete, damit ich auf die Rückbank klettern konnte, kreuzten sich für einen Moment unsere Blicke.
Unvermittelt überraschte sie mich mit der Frage: »Was glaubst du, wer bald zu Besuch kommt?«
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wen sie meinen konnte, und war auch nicht sonderlich erpicht auf Überraschungen aller Art, die bislang doch meist Nachteile für mich gebracht hatten. Erst als sie das Rätsel auflöste, kam mir mein Bruder wieder in den Sinn: Ja richtig, Mirko. Ach ja, der. Ich hatte ihn zu dieser Zeit schon so gut wie vergessen. Er gehörte zu einem anderen Leben.
Meine erste Reaktion war dennoch Freude. Mirkos Name hatte einen guten Klang, nach dem verlorenen Teil meiner Kindheit, den ich als Glück empfunden hatte. Zugleich kroch neues Misstrauen in mir hoch: Was führte mein Bruder im Bund mit meiner neuen Mutter wohl im Schilde? Wollte er sich auch in diese Pflegefamilie hineindrängen, von der ich bis dahin geglaubt hatte, dass sie ganz allein mir gehört? Oder – beinahe noch schlimmer – wollte er mir von neuem den Nachbarsjungen wegschnappen, wie damals in Gadebusch?
Meine Sorge blieb unbegründet. Als Mirko in Vatis Schlepptau wenige Tage später vor der Haustür stand, fand ich einen ermattet wirkenden Bruder vor, der keineswegs vorhatte, sich in mein neues Zuhause einzunisten. Auf typische Jungenart quetschte er nur ein lässiges »Hallo!« durch die Zähne, als hätten wir uns gestern erst gesehen. An seinen Augen aber konnte ich ablesen, dass er sich freute.
Vorsichtig sagte ich: »Schön, dass du wieder da bist!« Ich hoffte so sehr, dass er mir meine Mitschuld an seinem Rauswurf bei Frau Dr. Denzer inzwischen verziehen hatte, nun, da dieses Kapitel auch für mich Vergangenheit war.
Ich hatte zu meiner Erleichterung jedoch nicht den Eindruck, dass Mirko noch irgendeinen Gedanken daran verschwendete. Er musterte mein neues Heim gründlich, aber es war nur eine Besichtigung, keine Inbesitznahme. Es gab keine Spannungen zwischen uns, wir fühlten uns ein paar Stunden lang wieder wie Brüderchen und Schwesterchen. Zur Feier des Tages spendierte Mutti einen gemeinsamen Ausflug in den Kinderfreizeitpark »Märchenwald«, was für uns einer außergewöhnlichen Urlaubsreise gleichkam. Nach der Rückkehr am Abend wurden wir sogar zusammen in die alte Emaille-Badewanne gesteckt, die sich in einem holzgetäfelten Baderaum im Keller befand. Wir redeten wie alte Vertraute miteinander, ohne Misstrauen und Eifersucht.
Aber über die wesentlichen Fragen schwiegen wir. Weder erfuhr ich, wie Mirkos Alltag verlief, noch, was mit Mama geschehen war oder dass er weiter mit Oma in Kontakt stand, wie ich später herausfinden sollte. An unsere Vergangenheit rührten wir beide nicht, als hinge ein unsichtbares Schloss davor. Vielleicht scheuten wir uns, an den verschorften Stellen zu kratzen, die weh tun könnten. Jeder Hinweis, dass es da einmal ein anderes Leben gegeben hatte, ja, dass es überhaupt ein anderes Leben geben könnte, berührte mich irgendwie unangenehm, wie Brennnesselschmerz auf der Haut. Auch Mirko wirkte seltsam einsilbig, was unsere Herkunftsfamilie betraf. Hatte man ihm zuvor eingeschärft, mir gegenüber bloß ja kein Wort davon zu erwähnen? Jedenfalls sagte er nichts, und ich stellte auch keine Fragen.
Als wir ihn wieder in seinem Käthe-Kollwitz-Kinderheim ablieferten, das in einer schlossartigen Villa am Ufer der Weißen Elster untergebracht war, vereinbarte ich mit ihm zum Abschied, ihn bald wieder zu treffen. Ich entließ ihn als Vertrauten von früher in seine Welt. Mit meinem neuen Dasein hatte er nichts zu tun, und er empfand es umgekehrt vermutlich nicht anders. Ich war beruhigt. Mirko fehlte mir. Aber ich brauchte nicht mehr um ihn zu bangen, da ich ja jetzt wusste, wo er war und dass er mich nicht vergessen hatte.
Allmählich fühlte ich mich den Kleinkinderschuhen entwachsen. Das letzte Kindergartenjahr, das sich nun dem Ende zuneigte, ähnelte zwar bereits in vieler Hinsicht einer Schulklasse. Dennoch wollte ich, wie alle Kinder meines Alters, endlich eine richtige Schülerin sein. Schließlich wurde ich in diesem Sommer schon sieben Jahre alt. Den Kindergarten ließ ich ohne Wehmut hinter mir. Bevor mein aufregend neuer Lebensabschnitt beginnen würde, durfte ich mit meinen Eltern noch einmal eine gemeinsame Urlaubsreise an den Schwielowsee in der Nähe von Potsdam antreten. Ich war selig. Weder davor noch danach empfand
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