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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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aufgeschlossen gegenüber.« Auch später wird mein Einsatz in der FDJ immer wieder lobend hervorgehoben.
    Ich kann mich nicht entsinnen, mich damals in irgendeiner Weise für Politik interessiert zu haben. Die Pioniernachmittage aus jenen Tagen verbinde ich hauptsächlich mit Spielen, Basteln und Singen. Wenn im Fernsehgerät meiner Eltern die
Aktuelle Kamera
oder Eduard von Schnitzlers
Schwarzer Kanal
lief, stellte ich die Ohren auf Durchzug. Nachrichten und politische Kommentare waren für mich Botschaften aus einer anderen Welt, die mit meinem Leben nichts zu tun hatten.
    Wenn ich heute darüber nachdenke, würde ich sogar annehmen, dass ich damals bewusst innerlich abgeschaltet habe. Ich wollte lieber nicht so genau zuhören, dann lief ich auch nicht Gefahr, etwas Falsches wiederzugeben, wenn mich jemand fragte. Lieber schweigen als sich blamieren. Nach wie vor war es meine größte Sorge, ja nicht unangenehm aufzufallen. Nichts wäre mir peinlicher gewesen, als etwas zu sagen, was womöglich nicht mit den Erwartungen an mich übereinstimmte. Alles, was sich außerhalb meines unmittelbaren Erlebnishorizontes abspielte, bereitete mir Unbehagen. Wirklich zu Hause fühlte ich mich daher nur in den Fantasiewelten meiner Bücher und Märchenfilme.
    Da ich mich einer eingehenden Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Realität verweigerte, blieben eher diffuse Vorstellungen in meinem Bewusstsein haften. Der Westen, so bekam ich es später vermutlich in Staatsbürgerkunde eingetrichtert, war etwas ganz Schlimmes, ein Hort des Bösen und der Heimtücke. Ich war froh, dass bei uns im Osten jeder einen Arbeitsplatz hatte und wir keine Gebühren für Kinderbetreuung und Schulen bezahlen mussten – ganz anders als »drüben«. Näher begründen konnte ich diese Zusammenhänge allerdings nicht. Im Grunde ging mich das alles auch nichts an. Was kümmerte es mich schon, wie es irgendwo draußen in der Welt zuging? Ich hatte genug mit meinem eigenen Leben und dessen Begrenztheiten zu schaffen.
    Den meisten Eifer legte ich an den Tag, wenn es um praktische Unternehmungen ging. Auf Geheiß unserer Pionierleiterin beteiligten wir uns an den Subbotniktagen, an denen wir getreu dem Vorbild der sowjetischen Komsomolzen unseren Beitrag für das Gemeinwohl leisten sollten. Auf dem Schulgelände jäteten wir Unkraut, mähten Gras oder rechten Laub zusammen, in den Klassenräumen säuberten wir Schulbänke, Tafeln und Fenster – alles Tätigkeiten, die die Schulverwaltung offenbar nicht ohne unsere Unterstützung zustande brachte. Wir waren eine nützliche, idealistisch gesinnte Hilfstruppe für die Lücken im sozialistischen Aufbauwerk. Wenn einzelne Mitschüler, vermutlich von ihren eher regimefernen Eltern davon abgehalten, an unserem »freiwilligen« Arbeitsdienst nicht teilnahmen, erschien mir das befremdlich, da sie in meinen Augen die Gemeinschaft im Stich ließen.
    Es gab allerdings wohl kaum eine längere Phase in der kurzen Lebenszeit unserer Republik, in der sie bei der Mehrheit ihrer Bürger so hohes Ansehen genoss wie in den siebziger Jahren. Erich Honecker, Walter Ulbrichts Kronprinz und Königsmörder zugleich, galt zu Beginn seiner Amtszeit 1971 als ein Mann der Erneuerung. Der langgediente Funktionär hatte rechtzeitig erkannt, dass das Volk, dem weder eine Wahl noch eine Ausweichmöglichkeit blieb, nicht mit Askese oder Fünfjahresplänen zu gewinnen war, sondern vor allem mit dem kleinen, privaten Glück. So ließ er im großen Stil Wohnraum schaffen, der für damalige Verhältnisse komfortabel ausgestattet war. In kurzer Folge konnte der SED -Generalsekretär, der bald darauf auch im Staatsrat den Vorsitz übernahm, die Mieter der millionsten und der zweimillionsten Wohnung in ihren neu errichteten Plattenbauten besuchen.
    Zugleich kurbelte das Regime die Konsumgüterproduktion an, damit die Bürger das eine oder andere Gebrauchsgut erwerben konnten. Auch in unserem Haushalt gab es daraufhin endlich eine Waschmaschine, zu unser aller Erleichterung und meiner persönlichen Entlastung. Die DDR wurde ansatzweise lebenswerter. Fröhliche Musik- und Folklorefestivals wie die Weltjugendfestspiele von 1973 sollten Weltoffenheit signalisieren. Auch ich registrierte bei den meisten meiner Landsleute die Grundeinstellung, sich in unserem Arbeiter- und Bauernparadies so gut es ging einzurichten. Dass vieles davon nur Fassade war, hinter der sich viel Unmut und Unzufriedenheit anstauten, erkannte ich all die Jahre

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