Entrissen
Lippen brachte: Was war meine leibliche Mutter für ein Mensch? Wo hielt sie sich verborgen? Warum kam sie nicht, um mich zu sich zu holen?
Noch erschien es mir unvorstellbar, meine Mutti nach meiner Mama zu fragen. Dabei verging kein Tag, an dem ich nicht an die Vermisste dachte, gerade wenn mir die Arbeit mal wieder zu viel wurde. Das hätte Mama nicht zugelassen, redete ich mir ein. Bei ihr hätte ich es besser gehabt.
In Wirklichkeit wusste ich nicht einmal, wer meine leibliche Mutter war. Ich konnte mir nicht einmal mehr richtig ins Gedächtnis rufen, wie sie ausgesehen hatte. Mein Bild von ihr speiste sich eher aus meiner Einbildungskraft als aus den Fragmenten meiner Erinnerung. Umso mehr Freiraum hatte ich, mein eigenes Mutterbild zu entwerfen. Alles, was ich an meiner Adoptivmutter schrecklich fand, war meiner »wirklichen« Mama wesensfremd. Was ich bei jener vermisste, dichtete ich dieser an.
Idealer, glaube ich, hätte ein Mutterbild nicht ausfallen können. Und meiner Mama wäre es mit Sicherheit unmöglich gewesen, wenn sie jemals wieder aufgetaucht wäre, dieser Wunschvorstellung auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Aber sie blieb weiter verschollen, und genau das war für mich der Makel auf ihrem Heiligenschein. Wenn sie selbst jetzt, da die schlimmste Strafe längst abgebüßt sein musste, immer noch nicht kam, um ihr Versprechen einzulösen, blieb für mich nur eine Erklärung: Sie wollte mich nicht mehr haben.
Gera, November 2007
Ich komme mir schon fast wie ein Dauergast im Jugendamt von Gera vor. Mein zwischen Aktendeckeln dokumentiertes Leben hat sich als ausgesprochen vielseitig erwiesen. So besuche ich nun schon zum vierten Mal die freundliche Sachbearbeiterin, deren Sprechstunde mich bisweilen an eine Therapiesitzung erinnert. Das nüchtern gehaltene, aber zeitgemäße Büromobiliar ruft keine Assoziationen mehr an die DDR hervor, in den Aktenbündeln dagegen steckt sie noch, die scheinbar vergangene Zeit.
Blatt für Blatt arbeitet sich Frau Schwan durch die Dokumente und rezitiert aus der darin enthaltenen Verwaltungsprosa. Ich bemühe mich, möglichst viel davon in meinen Notizen festzuhalten, und bin der Sachbearbeiterin sehr dankbar, dass sie mir ausreichend Zeit dafür lässt. Zum ersten Mal erfahre ich, dass meine Mutter schon einmal im Gefängnis sitzen musste, gerade einmal sieben Monate nach meiner Geburt, wegen angeblichen Diebstahls und Urkundenfälschung. Es ist gelinde gesagt ein Schock für mich. Ich muss also schon in meinem ersten Lebensjahr mehrere Monate in einer staatlichen Dauerkrippe zugebracht haben.
Doch dann denke ich mir: Vermögen diese nüchternen Amtsvermerke die Wirklichkeit zu erfassen? Was wissen die Behörden schon von den Nöten einer jungen Mutter, die seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr auf sich alleine gestellt war? Die bis zum Alter von zwanzig Jahren bereits drei Geburten hinter sich hatte und mit dem Verlust ihres Erstgeborenen zurechtkommen musste? Deren Kinder wegen häufiger Krankheiten besondere Zuwendung brauchten? Die ohne Berufsausbildung von schlechtbezahlten Gelegenheitsarbeiten leben musste? Nirgends findet sich ein Hinweis darauf, dass der Staat, der nach eigenem Bekunden so sehr um das Wohl des Nachwuchses bemüht war, meiner damals minderjährigen Mutter geholfen hatte, ihr Leben zu bewältigen sowie sich und ihre Kinder ausreichend zu versorgen.
Immer wieder rufen die amtlichen Vermerke verschüttete Erinnerungen in mir wach.
Zum ersten Mal seit meiner Kindheit habe ich wieder in Umrissen das Bild vor Augen, wie die Männer in den dunklen Mänteln meine Mama damals abgeholt haben. Die Beamtin hört mir aufmerksam zu, obwohl der jungen Frau viele meiner Schilderungen wie Erzählungen aus einem fernen Land vorkommen müssen. Sie ist erstaunt, von der überfallartigen Festnahme zu erfahren, die ich hautnah miterlebt habe, denn davon steht nichts in den Unterlagen. Während sie die Papiere noch einmal nach einem Hinweis absucht, versuche ich mir die damaligen Umstände vor Augen zu führen.
»Mama saß also zu der Zeit, als ihr das Sorgerecht entzogen wurde, in Haft«, folgere ich. »Ich muss herausbekommen, ob es ihre freiwillige Entscheidung war, mich und meinen Bruder herzugeben.«
Im Blick der Sachbearbeiterin lese ich mitleidsvolle Skepsis, als sie kurz aufsieht. Weiß sie etwa mehr als ich? Immerhin kennt sie die Akten besser.
Wie durch einen Spalt in einem Vorhang sehe ich mich an der Hand meiner Mama, es muss kurz vor
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