Entrissen
servierte Mutti meinem Vater, als er von der Arbeit heimkam, meine Freveltat brühwarm zum Nachmittagskaffee. Er reagierte so, wie ich ihn kannte. Er verlor nicht viele Worte, ließ seinen Kaffee stehen, packte mich an der Hand und ging mit mir zum Tatort. Wieder bewunderte ich seinen Mut, seine Entschlossenheit. Trotzdem fürchtete ich mich vor der Begegnung mit der alten Frau, die bei uns Kindern wegen ihrer dauernden Nörgelei berüchtigt war. Ich hatte Angst, von ihr vor meinem Pflegevater als böses Mädchen hingestellt zu werden. Zum Glück gingen Papa und ich den ganzen Weg Hand in Hand.
Unterwegs schalt Vati mich wegen meiner Untat. »Was machst du denn für einen Blödsinn! Da würd ich mich an deren Stelle genauso ärgern. Zusammenleben bedeutet eben auch Rücksichtnahme, hörst du!«
Ich konnte dem wenig entgegensetzen, war ja selbst ganz bedrückt. Aber ihm gegenüber traute ich mich zu sagen: »Die Frau hat mir weh getan mit dem, was sie gesagt hat.«
An Papas Hand stieg ich die fünf Stufen zur Haustür der Nörglerin hinauf und wartete beklommen, während er den schwarzen Plasteklingelknopf drückte. Als hätte sie uns schon erwartet, stand die Hausherrin in ihrer abgetragenen Kittelschürze umgehend in der Tür. Papa forderte sie höflich auf, den Vorfall noch einmal zu schildern. Die kleine, kräftig gebaute Rentnerin beklagte sich darüber, wie dreist ich ihr Ordnungswerk ruiniert hatte.
»Und dann ist sie auch noch frech geworden, also …« Ihr Ton klang nun schon deutlich milder.
Vati ließ sich nicht beirren. Seine Stimme bekam einen anklagenden Unterton. »Haben Sie
Heimkind
zu ihr gesagt?« Jetzt antwortete die Frau nicht mehr. »Das ist eine Unverschämtheit«, legte mein Vater nach.
Betont zerknirscht murmelte sie eine Entschuldigung, und ihr faltiges Gesicht wurde fahl. Aber damit war die Affäre nicht aus der Welt.
Mein Vater betonte jedes seiner Worte überdeutlich: »Ja, Katrin war mal im Heim, aber jetzt ist … sie …
unser …
Kind!«
Das war Labsal für mein geschundenes Selbstwertgefühl. Nur scheinbar sprach Vati mit der Frau aus der Nachbarstraße. Seine Botschaft richtete sich in Wirklichkeit an mich. Du brauchst dich für deine Herkunft nicht zu schämen, gab er mir damit zu verstehen, du bist doch
unser
Goldschatz!
Es fiel mir daher nicht schwer, mich bei der Dame für den Vorfall zu entschuldigen. »Ich tu’s auch nicht wieder!«, sagte ich mit Stolz und nicht mehr mit Scham. Ich fühlte mich rehabilitiert, sah mich nicht mehr als Heimkind, sondern als legitime Tochter.
Tatsächlich war die Alte beinahe gerührt, und ich spürte plötzlich, dass sie sehr einsam sein musste. Das Tadeln der Kinder, die häufig vor der alten Sporthalle gegenüber ihrem Haus herumhingen, war wohl ihr Hauptkontakt zur Außenwelt. Nach unserer Aussprache behandelte sie mich fortan auffallend nett und freundlich.
Auf dem Rückweg sagte Vati nicht mehr viel. Ich ging ein wenig aufrechter neben ihm her. Wieso ist es immer er, der mich beschützt, ging es mir nur durch den Sinn, warum niemals Mutti?
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15 .
I n der vierten Klasse war ich reif für eine politische Beförderung. Von den Jungen Pionieren durfte ich zu den Thälmann-Pionieren überwechseln. Ernst Thälmann, das wussten wir aus dem Unterricht, war ein »aufrechter« Kommunistenführer, der gegen die Nazis gekämpft hatte und deswegen von ihnen 1944 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet worden war. Unzählige Straßen, Kombinate und Schulen in der DDR trugen seinen Namen. Er wurde uns stets und überall als Vorbild gepriesen. Jetzt waren wir selbst Nachwuchskommunisten, ohne dass ich so recht wusste oder mich darum kümmerte, was es denn mit diesem Kommunismus auf sich hatte.
Für mich zählte allein, dass wir nun anstelle des blauen ein rotes Halstuch tragen durften. Später kam noch das blaue Hemd der Freien Deutschen Jugend ( FDJ ) dazu, mit dem Emblem der aufgehenden Sonne am linken Ärmel. Diese Erkennungszeichen signalisierten in aller Öffentlichkeit, dass wir jetzt zu den Großen gehörten. Kinderkram und Ringelpietz waren von gestern, jetzt waren
wir
es, die den ABC -Schützen das blaue Halstuch umbinden durften. Im Vergleich zu ihnen fühlten wir uns schon fast erwachsen.
Mit Erstaunen lese ich heute in meinem Zeugnis für jenes Schuljahr die folgende Gesamteinschätzung: »Sie stellt die Ziele der Klasse höher als ihre eigenen.« Im Jahr darauf heißt es: »Politischen Ereignissen steht Katrin
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