Entrissen
ihrer Festnahme Anfang 1972 gewesen sein. Wir warten wie jeden Morgen vor meinem Kindergarten. Ich habe deutlich vor Augen, wie die schwere Tür ins Schloss fällt; wir beide davor, ausgesperrt. Von diesem Tag an gibt es für mich im Kindergarten keinen Platz mehr, aus welchem Grund auch immer. Bereits mir als Vierjähriger ist klar, dass meine Mama Schwierigkeiten bekommen wird, wenn sie keine Betreuung für mich hat, und das ist mir unangenehm.
Ich höre, wie sie sich aufregt, wie sie vor der Tür lautstark schimpft: »Wie soll ich denn einer Arbeit nachgehen, wenn ihr mir den Kindergartenplatz auch noch wegnehmt!« In ihrer Wut scheut sie nicht davor zurück, lautstark auf den Staat zu schimpfen. Ich kenne sie so nicht, noch nie habe ich Mama derart aufgebracht erlebt.
Neben diesem Unbehagen löste die verschlossene Tür damals auch aus einem anderen Grund Trauer bei mir aus: An jenem Tag hätte es im Kindergarten falschen Hasen gegeben, eine thüringische Spezialität mit Hackbraten und Erbsen, die mir nun entging, was ich unter Tränen kundtat.
Mama tröstete mich. Sie ging vor mir in die Hocke, fasste mich an den Schultern und sah mir ins Gesicht. »Sei nicht traurig, mein Schatz«, sagte sie aufmunternd zu mir, »dann kochen wir uns eben heute Mittag selbst was Schönes.«
Auf dem Weg nach Hause überquerten wir an jenem Tag den Marktplatz. Mama war immer noch ziemlich wütend und steuerte direkt auf ein Café zu, in dem sie ab und zu als Bedienung aushalf und ihre Freunde traf. Heute weiß ich, dass es das Haus der deutsch-sowjetischen Freundschaft war, das abends als Tanzlokal, tagsüber als Café diente. Zornig knallte sie ihre Handtasche auf einen der Stühle und schrie: »Wenn das hier so weitergeht, dann hau ich auch ab!« Sie rief die verbotenen Worte so laut, dass jeder es hören konnte.
Zwei ältere Schwestern meiner Mutter waren bereits in den Westen geflohen, bevor die Mauer 1961 hochgezogen worden war. »Wir holen dich rüber, wenn du groß bist«, hatten die beiden der Jüngeren zum Abschied versichert. Seitdem war offenbar auch meine Mama als Republikfluchtwillige im Visier des DDR -Überwachungsstaates, wie meine Adoptivmutter einmal bestätigte, woher auch immer sie dieses Wissen bezog.
Einige Male finden sich in meinen Adoptionsunterlagen Briefwechsel zwischen dem Jugendamt, der Kaderabteilung und der Abteilung Inneres. Ich frage Frau Schwan, was das für eine Behörde sei, doch sie weiß es ebenfalls nicht. Als solche Amtsbezeichnungen galten, war sie noch nicht im öffentlichen Dienst. Je mehr bürokratische Protokolle und Vermerke die Vorleserin mir vorträgt, desto rätselhafter erscheinen mir die Vorgänge, die die Akten eher verschleiern als erklären. Was ist der wahre Grund für die Haft meiner Mutter? Warum wurden wir von ihr getrennt? Musste sie, mussten wir für ihre Fluchtgedanken büßen? In dem Blätterbündel vermag ich auf die Fragen, die mich am meisten umtreiben, keine befriedigende Antwort zu finden – in diesem Moment noch nicht.
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16 .
M it dem Eintritt in die Mittelstufe der Polytechnischen Oberschule Bruno Kühn im September 1978 ließ ich die Grundstufe hinter mir und gehörte jetzt endgültig zu den Größeren. Auch mein Aufgabengebiet zu Hause erweiterte sich spürbar. Zum Schuljahresbeginn kehrte meine Mutti aus ihrem Babyjahr in den Lehrerberuf zurück, Sören kam in die Langenberger Kinderkrippe, im selben Gebäude, in dem auch mein ehemaliger Kindergarten war.
Und wer sollte ihn dorthin bringen und wieder abholen? Keine Frage: Diese Aufgabe ging mit der Zeit in meinen Verantwortungsbereich über. Meiner Mutti, die anfangs die Begleitung auf dem Hinweg noch übernommen hatte, war diese Pflicht neben ihrem Lehrerberuf und in ihrer Position offenbar zu viel. Sie kümmerte sich um Sören in erster Linie, wenn er krank war. Mein Vati fiel als Begleitperson ebenfalls aus, da er schon früh mit der Arbeit beginnen musste, wenn er nicht ohnehin auswärts im Einsatz war. Also blieb mir, der Ersatzmama, zweimal täglich der Gang zur Krippe überlassen. Ich musste unter der Woche um halb sechs Uhr aufstehen, um mein Brüderchen in aller Frühe zu wickeln, anzuziehen und ihm seinen warmen Pudding mit Haferflocken zuzubereiten. Anfangs empfand ich das nicht als Belastung, weil ich von ihm etwas zurückbekam: das Gefühl, gebraucht zu werden. Während meine Klassenkameraden noch am Frühstückstisch saßen, schob ich mit dem Ranzen auf dem Rücken den
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