Entrissen
besprochen hatten, dass er mich ein weiteres Mal besuchen sollte. Ich nahm mir vor, bei passender Gelegenheit meine Adoptiveltern zu fragen.
Bei Sören war es Liebe auf den ersten Blick. Von dem Moment an, als ich ihn sah, schloss ich den kleinen Mann in mein Herz, und da blieb er auch, als mein Herz größer und krank wurde, bis es irgendwann einen Schrittmacher benötigte. Er war wie ein nachträgliches Geschenk zu meinem Geburtstag, das schönste von allen. Gern übernahm ich es, wann immer sich die Gelegenheit ergab, ihn zu hüten und zu pflegen. Ich freute mich jedes Mal, wenn ich dem Säugling das Fläschchen geben durfte, auch weil es für mich den angenehmen Nebeneffekt hatte, dass ich in dieser Zeit von der lästigen Hausarbeit entbunden war. Da er als Frühchen unter Verdauungsproblemen litt, bekam er Babysan-Milch statt der DDR -üblichen KiNa-Ration in sein Fläschchen. Außerdem musste er viel umhergefahren werden. Bald war ich auf der Straße so gut wie nur noch mit dem Kinderwagen anzutreffen. Das war mir allerdings bedeutend lieber, als unsere Miezekatze Minka spazieren zu führen. Oft saß ich im Wohnzimmer und blätterte in meinen Mädchenbüchern, während ich Sörens Stubenwagen endlos hin und her rollte. Meine immer noch reichlich geschwächte Mutti ließ mich bereitwillig gewähren.
Diese zeitintensive Nebentätigkeit entfremdete mich meinen Klassenkameradinnen in der ersten Zeit noch nicht. Die meisten anderen Kinder schätzten mich sogar – auch wenn mein Status als Lehrerstochter meine Beliebtheit nicht unbedingt erhöhte. Dieses Handicap versuchte ich wettzumachen, indem ich darauf achtete, möglichst nicht durch Strebsamkeit und Gefügigkeit aufzufallen. Als einmal kurzfristig unser Lehrer ausfiel, saßen wir unbeaufsichtigt im Klassenzimmer und fingen an herumzualbern. Drei Kameraden kamen auf die abwegige Idee, wir könnten ein paar Stühle aus dem Fenster werfen. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, aber ich ging eine Wette ein, dass sie es nicht wagen würden. Natürlich flog kurz darauf der Stuhl aus dem Fenster. In meinem Bemühen, bloß nicht als ewig artige Lehrerstochter abgestempelt zu werden, dachte ich gar nicht daran, wie sehr ich meine Mutti mit solchen Streichen blamierte. Die Lehrerin aus dem Werkraum einen Stock tiefer, der das geräuschvolle Attentat nicht entgangen war, stürmte herein, um die Übeltäter dingfest zu machen.
Sie begrüßte uns mit der in solchen Fällen obligatorischen Lehrerfrage: »Wer war das?« Die Antwort war das übliche peinsame Schweigen. Als sie damit drohte, die gesamte Klasse zur Rechenschaft zu ziehen, hob ich die Hand und gestand die Tat, die ich nicht direkt begangen hatte. Darüber hinwegsehend, dass die Initiative nicht einmal von mir selbst ausgegangen war, fühlte ich mich durch meine Wette verantwortlich für den Vorfall. Mein Gerechtigkeitsgefühl gebot es mir, keinen unbeteiligten Klassenkameraden durch mein Schweigen der Strafverfolgung auszuliefern. Durch mein Beispiel animiert, meldeten sich die drei anderen Beteiligten ebenfalls.
Um uns angemessen zu bestrafen, wurde eigens ein Pionierappell anberaumt. Wir vier Missetäter mussten antreten und vor aller Augen den förmlichen Tadel des Pionierleiters und des Schuldirektors über uns ergehen lassen. Mir vermochte dieser öffentliche Schauprozess kaum etwas anzuhaben. Ich fühlte sogar ein wenig Stolz, weil ich mich zu meiner Aufmüpfigkeit bekannt hatte und nun im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Nur eine Sorge plagte mich: Wie sollte ich das bloß meiner Mutti beibringen? Ihre Tochter als Rädelsführerin bei unerlaubten Schulstreichen? Und das an ihrer eigenen Schule? Das passte so gar nicht zu dem glänzenden Bild, das sie der Außenwelt nur zu gern präsentierte. Noch bevor ich Gelegenheit zur Beichte fand, stellte sich heraus, dass sie längst unterrichtet war. Natürlich, wie sollte ihr so ein Vorfall auch entgehen? Die Gardinenpredigt blieb wider Erwarten aus, als ich nach Hause kam. Mutti hörte sich spürbar unbeteiligt an, was ich über den Ablauf meiner Verfehlung zu berichten hatte, und gab keinen Kommentar dazu ab. Erst als ich geendet hatte, meinte sie lapidar: »Da musst du jetzt durch …« Damit war der Fall für sie erledigt.
Meinem Ansehen in der Klasse schadete die öffentliche Maßregelung nicht. Manchen Altersgefährten mag der Anschein eines gewissen Rebellentums sogar imponiert haben. Ich knüpfte oberflächlichen Kontakt zu
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