Entrissen
nicht.
Im Grunde vollzog sich dieses Schauspiel auch bei uns zu Hause, wenngleich im Kleinformat. Meine Mutti hatte offenkundig das Bedürfnis, der Öffentlichkeit zu verkünden: »Seht her, ich habe aus Katrin einen ordentlichen Menschen gemacht!« Darin erschöpfte sich meine persönliche Zielvorgabe. Ich legte mich ins Zeug, um meiner Mutter, die an unserer Schule eine Autorität war, ja keine Blamage zu bereiten. Ich hatte verinnerlicht, dass ich meine eigenen Bedürfnisse zurückstellen musste. Noch erschien mir dieses Arrangement als einzig denkbare Rettung vor der tristen Bewahranstalt Kinderheim.
Wie ein Schatten begleitete mich dieser gefühlte Makel:
Heimkind. Tochter einer Staatsverräterin. Nicht vollwertig.
Umso eifriger tat ich alles dafür, um dem gewünschten Bild eines Vorzeigekindes zu entsprechen. Ich war mir bewusst, wie wichtig meiner Mutter, der Parteisekretärin, die Außenwirkung war. Das war wohl der Hauptgrund, warum ich mich mit derart großem Eifer bei den Thälmann-Pionieren hervortat.
Im Unterschied zu den zehn Jungpioniergeboten rückte in den Gesetzen, die jetzt für uns galten, der Punkt »Liebe und Achtung für unsere Eltern« vom zweiten auf den dritten Rang zurück. Die »Liebe für unser sozialistisches Vaterland« und der »Stolz auf unser rotes Halstuch« erhielten dagegen höhere Priorität. Ein Stück mehr gehörten wir dem sozialistischen Staat und entfernten uns von der Familie.
Dass es irgendeine Alternative zum staatlichen Jugendverband geben könnte, kam mir gar nicht erst in den Sinn. Selbst die beiden Schüler meiner Klasse, deren Eltern der Kirche verbunden waren, trugen das obligatorische Halsband. Auch sie wollten nicht ausgeschlossen sein.
Kirche war in meiner Familie wie ein rotes Tuch, ein Relikt aus finsterer Vergangenheit, ein Tabu, über das nicht gesprochen wurde. Was Religion war, wusste ich nicht, klerikale Bräuche waren mir unbekannt. Einmal hatte ich als Kind bei irgendeiner Gelegenheit kleine Heiligenbildchen zu sehen bekommen, auf denen die Abgebildeten zum Himmel beteten. Daraus schloss ich, dass es ein höheres Wesen geben musste. Aber ich war böse auf diesen Gott, wenn es ihn denn gab. Ich erinnere mich, dass ich in einem verzweifelten Augenblick zum Himmel hochsah und mich bitter beklagte. »Du bist nie da, wenn es darum geht, mir zu helfen!«, sagte ich vorwurfsvoll. Warum lässt dieser allmächtige Gott zu, dass ein Kind, das unschuldig und hilflos ist, derart leiden muss? Erst sehr viel später fand ich eine Verbindung zu Gott.
Selbst das Weihnachtsfest bei uns zu Hause hatte keinerlei religiösen Bezug. Allein Weihnachtsbaum und Gabentisch erinnerten an die Feier in christlichen Familien. Gab es zu Beginn noch Geschenke, die mein Herz berührten, wie den Teddybären Bruno oder mein erstes eigenes Fahrrad, so erhielt ich bald nur noch Präsente, die einen Alltagsnutzen hatten. Einmal lag für mich das Buch
Kochen. 1680 Rezepte für Sie,
das kulinarische Standardwerk der DDR , unterm Lichterbaum.
Ein Geschenk meiner Mutti jedoch hütete ich lange Zeit wie einen kleinen Schatz, obwohl es lediglich ein Jugendbuch war. Ich weiß nicht, wie oft ich diese Erzählung damals von vorn bis hinten gelesen habe, denn sie spendete mir immer wieder Trost und gab mir Hilfestellung. Christa aus der gleichnamigen Geschichte eines jungen Mädchens des sorbischen Autors Jurij Brězan war ein Adoptivkind wie ich, das sich auf die abenteuerreiche Suche nach seinen wahren Eltern macht. Am Ende stößt Christa nur auf ihren egoistischen Vater, die Mutter ist schon gestorben, weshalb sie geläutert beschließt, bei ihren Adoptiveltern zu bleiben.
Während ich diese Erzählung verschlang, wurde ich zu Christa; mit ihr bangte und forschte ich, mit ihr war ich traurig, weil es ihr am Ende versagt blieb, ihre leibliche Mutter in die Arme zu schließen. Christa wurde meine Identifikationsfigur. Ich spürte dieselbe Sehnsucht wie dieses Mädchen, nach den eigenen Wurzeln zu forschen, empfand aber zugleich die Angst, am Ende ähnlich ernüchtert zu werden. Merkwürdigerweise habe ich mich damals nie gefragt, ob Mutti mir gerade dieses Buch mit Absicht geschenkt hatte. Verbarg sich hinter der Geschichte etwa ein Gesprächsangebot an mich? Sollte Christas Beispiel mir zeigen, dass die Adoptivfamilie am Ende doch das richtige Zuhause war? Wollte sie mich mit diesem Buch einladen, ihr all die Fragen zu stellen, die mir auf der Seele brannten, die ich aber nie über die
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