Entrissen
braungestreiften Klappkinderwagen den Langenberg hinab. Da die Krippe in entgegengesetzter Richtung zu meiner Schule lag, hatte ich jeden Morgen den doppelten Weg zu bewältigen. Mein Unterricht begann bereits um fünf nach sieben, ich musste mich also sputen.
Mein immenses Tagesprogramm schlug sich bald in den schulischen Leistungen nieder, denn manchmal kamen selbst die sonst so unantastbaren Hausaufgaben zu kurz. Mit der Zeit merkte ich ohnehin, dass mir praktische Fächer wie Werken, Musik und seit neuestem auch Nadelarbeit, wo wir sticken lernten, deutlich mehr lagen als Mathematik oder Deutsch. Meine größte Abneigung hegte ich gegenüber Leistungsproben, bei denen ich jedes Mal riskierte, unangenehm aufzufallen. Das galt besonders für den Sportunterricht, vor dem ich mich regelrecht fürchtete. Am Seil hing ich wie ein Sandsack, an der Kletterstange hatte ich panische Angst hinunterzufallen, und vor dem Barren scheute ich wie ein störrisches Pferd. Mit Entsetzen erinnerte ich mich daran, wie ich einmal abgerutscht und meine Haut danach mit grünen, gelben und blauen Flecken übersät gewesen war. Ausdauerlauf, Gymnastik sowie Turnen mit Bällen und Bändern sagten mir erheblich mehr zu.
Nach den Hausaufgaben hieß es für mich, erneut zur Kinderkrippe zu stapfen. Zum Ausgleich verzichtete ich auf die bequeme Fahrt im Linienbus und brachte Sören zu Fuß nach Hause, denn ich empfand jede herausgeschundene Minute als Schonfrist vor der Hausarbeit. Besonders gern parkte ich den Kinderwagen bei schönem Wetter neben dem Spielplatz am Ende der Schützenstraße. Während Sören im Sandkasten buddelte oder die Rutsche hinunterglitt, genoss ich die kleine Freiheit, hier zu sitzen und auszuspannen. Es war meine einzige Auszeit im Tagesablauf.
Der erschöpfte sich zu Hause in Wickeln, Aufräumen, Kehren, Essenvorbereiten, Tischdecken, Abwaschen und was sonst noch so anstand. Erschwerend kam hinzu, dass Oma Erna mit der Zeit zu altersschwach war, um mir wie früher zur Hand zu gehen. Bald zeigten sich deutliche Anzeichen einer Demenzerkrankung, und es wurde immer schwieriger, mit ihr eine Gesprächsbasis zu finden. Leider ging es mit meiner ehemaligen Vertrauten in der Folge gesundheitlich rapide bergab. Ihre letzten Lebensjahre musste Oma Erna in einem Pflegeheim fristen, wo sie 1983 verstarb.
Völlig selbstverständlich wurde daher von mir erwartet, dass ich im Alleingang meinen kleinen Bruder versorgte (was ich gern tat) und den gesamten Haushalt auf Vordermann brachte (was mir zuwider war). Kochen und backen, was meiner Mutter offenbar am meisten Spaß bereitete, übernahm sie zunächst noch selbst. Die eher undankbaren Aufgaben wanderten nach und nach in meinen Zuständigkeitsbereich. Erst im Anschluss an das Abendessen, nachdem ich Sören seine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte, ging ich manchmal noch auf die Straße, um mit den Nachbarskindern Federball zu spielen. Wenn ich dazu nicht zu erschöpft war.
Mutti schien es durchaus zu genießen, dass ich mein Tagewerk weitgehend ohne ihre Anleitung ableistete. Sie schien in mir nicht mehr das kleine Töchterchen zu sehen, das großer Zuwendung bedurfte. Deshalb beschäftigte sie sich vorwiegend dann mit mir, wenn es um Haus- oder Schulangelegenheiten ging. Unsere Gespräche wurden mehr und mehr zu Dienstbesprechungen. Die gemeinsamen Karten- oder Brettspiele am Samstagabend waren eine seltene Ausnahme. »Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen«, hatte ich oft zu hören bekommen. Jetzt blieb mir davon vor allem die Arbeit.
Ein Gedanke drängte sich mir auf, den ich nicht wieder loszuwerden vermochte: Ich hatte als Vorzeigekind der Musterfamilie offenbar ausgedient. Denn jetzt gab es ja einen
richtigen
Jungen, einen eigenen Stammhalter. Die vollwertige Alternative ersetzte das Provisorium. Meine Funktion war erfüllt, und nun bekam ich eine neue Rolle zugewiesen: Ich wurde zum Aschenputtel im Haus, wenn auch ohne hinterhältige Stiefschwestern. In mancherlei Hinsicht war meine Kindheit vorbei. Keiner meiner Erzieher schien je auf die Idee zu kommen, dass Kinderglück mehr beinhalten könnte als treue Pflichterfüllung.
Doch ich kreidete es nie meinem Bruder an, dass er mir viel Mühe bereitete. Zwischen Sören und mir stand auch in späteren Jahren nie Eifersucht oder Missgunst. Dankbar nahm er an, was ich ihm beibrachte. Er war aufmerksam bei der Sache, wenn ich ihm Bilderbücher zeigte und später Kindergeschichten vorlas. Ich wurde mit der Zeit zur
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